Berlinale 2018, Tag 4: Problemkind, Wunderkind und die Visualisierung von Verschwinden

Einer der längsten Tage dieses Jahres stand an. Gegen Mittag merkte ich, dass meine Planung bestenfalls einen Snack zwischendurch, jedoch keine richtige Pause oder gar Heimfahrt zwischendurch zu ließ. Uff. Wenigstens konnte die Ausbeute sich sehen lassen!

Die grüne Lüge (Österreich, Regie: Werner Boote)

Werner Boote ist seit seinem Film “Plastic Planet” mit dem Thema Ökologie durchaus vertraut. Als ihm auf einer der letzten Berlinalen jedoch geraten wurde, er solle seinen nächsten Film doch einfach ökologisch durch Kauf von Zertifikaten als ökologisch erklären lassen, wurde er wiederum neugierig.

Hier macht Boote sich nun, begleitet von seiner deutschn Ko-Autorin Kathrin Hartmann auf eine kleine Weltreise zu den Stätten großer ökologischer Greueltaten und auf die Suche nach Gesprächspartnern in Konzernen, bei Hilfsorganisationen und direkt von Umweltschäden betroffenen.

Wo Palmöl wachsen soll wird vorher meist verbrannte Erde erzeugt.

Es hat schon eine gewisse Dreistigkeit -und die decken Hartmann und Boote immer wieder auf-, wie uns von Seiten der Industrie der Kopf gewaschen wird, wie uns längst überholte Praktiken und Rohstoffe als sauber und ökologisch neutral verkauft werden sollen.

Da verzeiht man auch, dass die Rollenverteilung der beiden Protagonisten des Filmes (Hartmann als Warner/Nörgler, Boote als Unbedarfter) mit der Zeit etwas bemüht wirkt. Somit allerdings für manch launiges Streitgespräch der beiden herhält. Unterhaltung im Namen der Aufklärung. Damit kann ich leben.

Mit nem Teelöffel Zucker schmeckt die bittere Medizin halt besser. Denn letztlich ist dies Thema vielleicht nicht sexy, fällt uns aber ganz gewiss in weniger als einer Generation auf die Füße. Und Druck auf den Gesetzgeber erfordert Mühe und Beharrlichkeit.

Die Alternative: Wenn es keine wirklich ökologisch vernünftige Variante gibt, Verzicht. Bitte Handzeichen.

Cobain (Niederlande/Belgien/Deutschland, Regie: Nanouk Leopold)

Durch übervollen Filmkalender überfordert, war “Cobain” das erste Opfer meines Schlafmangels. Im Mittelteil fehlten mir ca. 10Minuten. Ich habe später durchaus in Betracht gezogen, diesen ansprechenden Film nochmal zu schauen, doch terminlich wird es nicht mehr klappen.

Der 15jahrige Cobain hat es nicht leicht. Er wächst vaterlos in einem Jugendheim auf, denn seine ebenfalls noch junge Mutter Mia glänzt nur durch Abwesenheit und Drogensucht. Außerdem ist sie wiederum schwanger.

Obwohl Cobain eine gerade vermittelte nette Pflegefamilie Geborgenheit verspricht, büxt er aus und schließt sich einem zwielichtigen, alternden Zuhälter, der zum väterlichen Freund wird. (Wie es dazu kommt, ist meine Lücke, siehe oben) Die Jungfräulichkeit verliert er mit einer Prostituierten, für die er an sich mehr empfindet.

Mia taucht eigentlich nur dann auf, wenn bei ihr wieder Not am Mann ist und/oder Knete gebraucht wird. Cobain zofft sich immer wieder  mit ihr, enttäuscht und vor Sorge wütend. Er schafft es jedoch noch nicht, sich von ihr loszusagen.

Aus Befürchtung, dass Mia als auch das Baby die Schwangerschaft aufgrund der Fahrlässigkeit der Mutter nicht überstehen wird, entführt er die Ahnungslose in ein leer stehendes Landhaus, um hier für sie zu sorgen. Das Schicksal wird ihm zeigen, dass er sich -so ehrenwert seine Absicht ist- übernommen hat.

Diese Mutterliebe ist ein Trauerspiel

Was nach Problemfilm klingt, packt emotional dennoch ungemein. Geschickt spielt der Film mit unseren storymaßigen Erwartungshaltungen. Immer wieder, nicht nur in Konflikten steht die Handlung auf der Kippe, könnte es so oder anders weiter gehen. Bemerkenswert: Bas Keizer in der Titelrolle ist Debütant und war quasi vor seiner eigenen Schule für ein Casting angesprochen worden! Chapeau.

Nichts für schwache Nerven übrigens. Als es während der Wehen zu Komplikationen kommt, musste das Publikum einige Male fassungslos aufstöhnen.

Chef Flynn (USA, Regie: Cameron Yates)

Was macht man, wenn der eigene Sohn bereits als Knirps das Zepter in der heimischen Küche übernimmt – und bald darauf Verwandte, später auch erste zahlende Gäste mit ausgefeilten Menüs begeistert?

Flynn McGarrys Mutter tat genau das richtige und gab ihrem Sohn Freiräume und jegliche Unterstützung. Dankenswerter weise ist sie selbst Filmemacherin und hatte über die Jahre zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit eine ihrer Kameras in der Hand, um ihr Wunderkind (mal stolz, mal genervt aber immer Feuer und Flamme) dabei zu dokumentieren.

Im Teenager Alter in der Profiküche

Somit war Regisseur Yates in einer denkbar guten Ausgangssituation. Die Figur Flynn ist so frappant, dass die filmische Umsetzung fast zur Nebensache wird. Die Dramaturgie aus dem scheinbar lückenlosen Material ist teilweise so stimmig, dass es sich fast geplant anfühlt. Trotzdem kann sich der Film noch einigermaßen gegen Reality-Formate abgrenzen. Hautnah wäre sonst leider auch kurz vor distanzlos.

Xiao Mei (Taiwan, Regie: Maren Hwang)

Ein unerklärtes Verschwinden, eine unmögliche Aufgabe: Neun Personen versuchen sich, das Verschwinden der jungen Frau Xiao Mei zu erklären. Ihr Freund, ihre Arbeitgeberin, ihr Vermieter… alle hatte mit ihr zu tun und konnten dennoch nicht den wohl Drogen-bedingten Absturz  von Xiao Mei verhindern. Es bleibt bei dem Versuch, die Tage und Wochen davor zu beleuchten.

Regisseur Hwang wählt hier einen eigenwilligen Ansatz: Die Figuren erzählen in ihrem Arbeitsumfeld direkt in die Kamera, nur von gelegentlichen Zwischenfragen des unsichtbaren Interviewers unterbrochen. Das kunstvolle und künstliche Setting wird montiert mit Spielszenen des Beschriebenen – in denen die Zeugen wiederum hier und da unvermittelt die “4.Wand” durchbrechen und zum Publikum sprechen.

Verschwinden oder Auflösung ?

“Mockumentary” als Drama, ein seltener und umso interessanterer Ansatz.

Trotz der späten Stunde (Beginn: 2230Uhr), trotz Schlafmangels blieb ich erstaunlich gut am Ball. Und das trotz (nie eine gute Idee:) Untertitel zu Dialogen in Mandarin beim letzten Film nach bereits 4 1/2h Filmstunden!

Dass sich nicht alles erschloss lag weniger an meinen ca. 5 verschlafenen Minuten, sondern an der zeitweilig kunstvoll bis metaphysischen Bildsprache Maren Hwangs. Was aber durchaus gerade den Reiz ausmachte. Ein Rätsel, das gar nicht gelöst werden will.

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