Den ersten Film heute hatte ich zwei Tage zuvor durch ein Versehen komplett verpasst. Was ein Jammer gewesen wäre, wie ich feststellen sollte:
Les faux tatouages [Fake Tattoos] (Kanada, Regie: Pascal Plante)
Auf dem ersten Blick scheint Theo ein normal mürrischer Teenager zu sein. Der gerade achtzehn gewordene Musikfan lernt nach einem Punk-Konzert zufällig die lebenslustige und freimütige Mag kennen. Aus zunächst vorsichtigem Thekengeplauder wird ein Flirt. Theo landet bei ihr Zuhause und dann in ihrem Bett. Am nächsten Morgen ist es zwar etwas seltsam, ihrer Mutter und Geschwistern zu begegnen. Doch wenigstens sind die sehr locker drauf (ganz im Gegenteil zu Theos Mutter)
Doch der zumeist düster wirkende Theo hat noch ein ganz anderes Geheimnis. Was Mag nicht ahnt: Er hat durch jugendlichen Leichtsinn einen Unfall mit fatalen Folgen für seinen Freund verursacht und ist damit in seinem Umfeld zur persona non grata geworden.
Seine besorgte, aber hilflose Mutter und er haben beschlossen, dass ein Umzug zu Theos Schwester ihm die Chance für einen Neuanfang geben soll. Als er Mag zumindest den Umzug “beichtet”, ist diese nicht mal frustriert. Sie beschließen das Beste aus der ihnen verbleibenden Zeit zu machen.
Was Regisseur Patrice Plante hier mit dem Topos Junge Liebe gelungen ist, sucht seinesgleichen. Das ganze hat einen ganz eigenen Charme. Wie die Hauptcharaktere nur auf den ersten Blick unvereinbar scheinen, so spiegelt sich in ihrer Chemie zugleich der Gesamtcharakter des Filmes: Melancholisch verstimmt trifft charmant bis optimistisch.
In vielen langen, von Hand gefilmten Einstellungen gelingt es Regie und Kameramann, das ganze überaus authentisch wirken zu lassen. Die sehr natürlichen Dialoge (wie uns versichert wurde gescriptet und nicht improvisiert!) tun ein Übriges.
Notiz am Rande: Mags Rolle wurde altersmäßig umgeschrieben da die eigentlich zwei Jahre für die Rolle zu alte Rose-Marie im Casting dermaßen überzeugte.
Ein stimmiges Ende zu finden, ist bei Liebesdramen überdies schwer. Doch auch diese Hürde nimmt Regisseur und Autor Patrice Plante mit einer symbolträchtigen Szene mit Bravour.
Museo [Museum] (Mexiko, Regie Alonso Ruizpalacios)
Die Freunde Juan und Benjamin (genannt Wilson) haben zwar als Dauerstudenten noch nicht viel erreicht im Leben. Dafür aber den Kopf voll mit hehren Idealen. Wobei die Boys aus anständigem Haus eigentlich keinen Grund haben sich zu beklagen. Gemacht wird meist, was der dominante und aufmüpfigere Juan sagt.
Der museale Umgang mit dem Umgang von Maya-Kunst ist Juan ein besonderer Dorn im Auge – und so brechen sie nach einiger Planung ein und räumen (es läuft einfacher als sie dachten) Dutzende von Artefakten ab. Sie ahnen nicht, wie die öffentliche Meinung die Täter bald darauf als unpatriotische Schweinehunde verfemen wird.
Die Freunde erkennen außerdem zu spät, dass ihr Schatz nicht nur unersetzlich sondern auch unverkäuflich ist. Keiner will die heiße Ware anfassen. Eine turbulente, immer verzweifeltere Irrfahrt, eine Mischung aus Flucht und Hehlertrip führt sie zu vermeintlichen Kontaktpersonen über die Mayastätten von Palenque schließlich ins Bade-Paradies Acapulco.
Was noch als Familien-Komödie beginnt wird über den Verlauf der Handlung langsam vom Drama zur Tragödie – genauso wie sich der Blickrichtung dieser noch nicht ganz erwachsenen Männer verschiebt.
Doch auch bei diesem ansehnlichen Film fehlen mir von insgesamt 128 Minuten circa zwanzig – Berlinaleschlaf. Wiedersehen: gern.
Übrigens: Statt “basierend auf einer wahren Geschichte” wurde sehr passend vor Beginn der Handlung eingeblendet: “Dies ist eine Nachbildung des Originals.” …so wie es später an der Museumsvitrine zu lesen sein wird.
Twarz [Mug] (Polen, Regie: Małgorzata Szumowska)
Der urwüchsige Jacek arbeitet auf dem elterlichen Bauernhof in der polnischen Provinz. Als Nonkonformist liebt er Heavy Metal und trägt am liebsten seine “Kutte”. Obwohl er eigentlich davon träumt, nach England auszuwandern scheint er doch in dieser kleinkarierten Welt verhaftet. Dabei nicht unzufrieden, da ja gerade erst frisch verlobt mit der hübschen Dagmara.
In der Nähe des Städtchens wird ein Großprojekt realisiert: Der Welt größte Jesus-Statue soll errichtet werden. Die Bevölkerung hilft mit Spenden im Gottesdienst sowie mit freiwilligen Arbeitseinsätzen. Bei einem dieser erleidet Jacek einen schweren Unfall, der sein Gesicht komplett entstellt. Als er erwacht, wurde an ihm die erste Gesichts-Transplantation Polens durchgeführt.
Auch wenn er und seine Familie eigentlich von Glück sagen könnten: Der Medienrummel als auch seine sehr gewöhnungsbedürftige neue Visage werfen sein bisheriges Leben komplett über den Haufen. Niemand begegnet ihm mehr so wie zuvor, selbst seine Mutter fremdelt. Und Dagmara gibt ihm den Laufpass.
Immer wieder rückt die Regisseurin durch sehr begrenzten, selektiven Fokus unseren Blick. Oder soll dies Jaceks verminderte, doch nun offenbarte Weltsicht zeigen ? Es gab ja schon so einiges symbolträchtiges in den letzten Tagen, doch eine Parabel vermag ich hierin nicht zu erkennen. Eine Farce über den Stand der Gesellschaft schon.
Und das ganze als polnische Gesellschaftssatire zu deuten… das überlasse ich lieber den polnischen Zuschauern.