erstaunlich ausgeschlafen und nach wiederum kurzem und sehr erfolgreichem Vorverkauf für den Donnerstag ging es in
Paradise Drifters (Niederlande, Regie: Mees Peijnenburg)
Nachden die Heranwachsende Chloe ungeplant schwanger geworden ist, lässt sie sich nach Barcelona schicken, wo sie ihr Kind gebähren und dann verkaufen soll. Aus dem Elternhaus reißaus nehmend, sieht sich zu dreisten Mitteln gezwungen und besetzt an einer Raststätte den Beifahrersitz im Auto des jungen Lorenzos.
Dieser Heimatlose wiederum ist gerade dabei, Drogen(?..auch das bleibt unklar) nach Marseille zu schmuggeln – es seinem noch inhaftiertem Bruder und Idol gleich tuend. Lorenzo wundert sich nicht schlecht, als auch noch Yousef unvermittelt auf dem Rücksitz Platz nimmt. Der ist als fast erwachsene Waise gerade aus einem Jugendheim entlassen worden. Was die anderen Beiden nicht ahnen: der aufgeweckt scheinende Yousef ist lebensmüde.
Alle Drei verkappt am Rande der Verzweiflung, bilden sie eine Zweck- und Fahrgemeinschaft. In Marseille angekommen erlangen sie kurzzeitigen Reichtum. Neue Enttäuschungen und Krisen lassen nicht lange auf sich warten.
In energetischen Szenen und unruhigen, teils körnigen Bildern (tatsächlich auf 16mm Film gedreht) sind wir zwar nah dran an den Dreien und ihren Fährnissen. Doch immer wieder reißt die Narrative ab, wird durch unvermittelte Schnitte zerrissen. Kurze Schwarzblende, dann ein anderes Kapitel.
Die Fragmentierung die dadurch entsteht und die Lücken in der Narrative sind laut Regisseur Mees durchaus gewollt. Wir haben kaum Haltepunkte, haben es schwer die Protagonisten zu fassen. So wie die ihre Situation. Eine bewegende Studie.
Regisseur Mees (der vor ein paar Jahren hier schon einmal mit dem ‘Even Cowboys get to cry’ beeindruckte), war bei seinen vorherigen Kurzfilmen mit einer Vielzahl von Jugendlichen zusammen gekommen, die eine Geschichte aus Jugendheimen, Pflegefamilien oder Obdachlosigkeit hinter sich hatten. Ihnen will er mit ‘Paradise Drifters’ ein Zeichen setzen.
Produktionsnotiz: Co-Hauptdarstellerin Tamar van Waning kam erst sehr spät im Casting ins Visier. Die Freundin des Regisseurs hatte sie in einer holländischen Reality-Show gesehen und Peijnenburg vorgeschlagen. Bei Probeaufnahmen verblüffte sie dann die Schauspiel-Debütantin mit immenser Präsenz.
Dass der Film auf 16mm und nicht quasi unbegrenzten digital-Ressourcen gedreht wurde, hat übrigens laut Mees die Dreharbeiten durchaus positiv intensiviert.
Nachdem man bei der Berlinale-Vorbereitung von Hunderte von Kurzbeschreibungen gesichtet hat, weiß man später manchmal nicht mehr, warum man hinter einem bestimmten so her war. So ging es mir kurz vor dem Screening von
Funny Face (USA, Regie: Tim Sutton)
in dem es um Gentrifikation in New York, speziell Brooklyn geht als Hintergrund für eine ungewöhnliche Freundschafts-Story zwischen Saul und Zama. Er lebt bei seinen Großeltern, deren Haus bald einem Parkplatz-Bauprojekt weichen soll. Auch sie ist Waise, hält es bei Onkel und Tante nicht mehr aus. Irgendwann leben die beiden Ausreißer bzw. Obdachlosen im Auto. Sauls Hass auf den (namenlosen) Immobilien-König, der für ihn für die Verunstaltung ihrer Stadt verantwortlich ist, wird immer größer.
Leider nimmt Regisseur Sutton einen ziemlich umständlichen Weg. Und das kann auch keine Platzierung in der “Encounters” Sektion der Berlinale kaschieren. Auch wenn man im Q&A seine Einstellung nachvollziehen kann, im wirklichen Leben seien Geschichten auch nicht säuberlich nach Stil getrennt wie Romanze, Helden-Epos, Sozialdrama etc. Doch ‘Funny Face’ leistet sich in der Tat diese Formlosigkeit etwas zu großzügig.
Selten sind Szenen und Abfolgen zwingend, wie die Konfrontation des Immobilien-Hais mit seinem (Über-)Vater, der noch gewisser Ethik statt reinem Mammon verpflichtet ist. Die feinen Spitzen, die hier im Dialog gesetzt werden (wenn Papa zum Beispiel die letzten 5 NYC Bürgermeister bloß mit Vornamen beiläufig aufzählt) zeigen, dass mehr Stringenz dem Film gut getan hätte.
Oder aber als Saul nach einer weiteren Niederlage seines geliebtem Teams New York Knicks bedenklich ausrastet: Als Zama einwendet, es gäbe doch immer noch die Brooklyn Nets hebt Saul zu einer Tirade ab, die Spekulation und reine Geldinteressen im Sport wie im Immobiliengeschäft nebeneinander stellt. Szenenapplaus von offenbar anwesenen New Yorkern.
Semina il vento [Sow the wind] (Italien, Regie: Danilo Caputo)
Nach drei Jahren kommt die Studentin Nica zu einem Besuch bei ihren Eltern im ländlichen Italien. Sie war seinerzeit protestartig weggezogen, weil sie nicht ertrug, wie die Eltern, vor allem die Mutter Nicas geliebte Großmutter in ein Hospiz abschoben.
Vater und Mutter sind in finanziellen Schwierigkeiten, weil ihr jahrhunderte alter Olivenhain seit Jahren nur noch Fehlernten produzieren. Ein scheinbar gegen jedes Pestizid resistente Insekt ist die Ursache. Oder doch die nahe Fabrik? Der Vater erwägt Abholzung gegen staatliche Entschädigung.
Nica, von der alle sagen, dass sie mehr nach ihrer (Natur- und Mythen verbundenen) Nonna kommt, geht als angehende Agrar-Wissenschaftlerin der Sache auf den Grund. Auch wenn die unbeirrbare junge Frau dabei mehrmals aneckt. Doch ihr Vater hat längst andere Pläne.
Eine vielleicht konventionell erzählte Story über eine unkonventionelle Frau. Nach diversen Experimenten der letzten Tage meinerseits tut dies allerdings auch mal gut.
Mit einiger Bedacht erzählt Danilo Caputi diese einnehmende Geschichte und hält gekonnt die Balance zwischen Familien-und Natur-Drama. Er kommt dabei ohne Pathos und Effekthascherei aus. Dafür findet er nicht nur Bilder, die erkennen lassen, dass Nica der Wald näher steht als manchen Menschen. Er lässt uns auch Hören, wie die Olivenbäume für sie wie alte Segelschiffe knarzen. Der Film hält gekonnt die Balance zwischen Familien- und Natur-Drama.
Wie wir im Q&A vom Regisseur und Autor Caputi hören, sind ganze Landstriche Italiens tatsächlich von ähnlichen Phänomenen befallen. Die Lösung leider nicht nicht so patent, wie im Film gezeigt. Er hoffe trotzdem, dass es neben Tradition und Modernismus noch einen dritten Weg gibt.
Die Produzenten schwärmten von Caputis Hingabe bei seinem langen Entwicklungsprozess. Man lernte ihn kennen, als er als Postbote jobbend an seinem Drehbuch arbeitete. Auf der Suche nach einer passenden Hauptdarstellerin war er im Casting war fast der Verzweiflung nahe. Bis er endlich Yile Yara Vianello fand, die in ihrem gerade mal zweitem Film als Idealbesetzung gelten darf.