…wie das manchmal so ist, überschätzt man Filme für die man händeringend Tickets gesucht hat. Andere, die man eher aus Verlegenheit gebucht hat, erweisen sich alsee Highlight. Trostpreise werden zu Hauptgewinnen:
Na srebrnym globie [On Silver Globe] (Polen 1977/87, Regie: Andrej Zulawski)
166 Minuten ?! Film nur in rekonstruierter, unvollständiger Fassung ? Ich bin trotztdem sehr froh, dass ich mich nicht habe abhalten lassen. Wenn auch Genie und Wahnsinn nah beieinander liegen. Bzw. Triumph und Fehlschlag:
Der vor gut einem Jahr verstorbene Andrej Zulawski war einer der berühmtesten Regisseure Polens und gelang durch Filme wie ‘Nachtblende’ oder ‘Obsession’ zu Ruhm. Doch auch er hat ein persönliches Waterloo erlebt. Ein Film, der -wie er sich ausdrückt- ihm im Jahre 1977 “gestohlen und zerstört” wurde. Zur Handlung:
Erdastronauten wollen auf einem fernen, erdähnlichen Planeten eine neue Gesellschaft gründen. Ihr Einfluss auf die ansässigen vorzivilsatorischen Menschen stellt sich aber nicht nur als förderlich heraus. Mystizismus und Gewalt sind und bleiben an der Tagesordnung, die Ankömmlinge werden ungewollt sogar zu Religions-Stiftern. Rüchschritt statt Evolution. Eine Raumsonde mit Aufzeichungen über die ersten Jahre wird abgesetzt; eine weitere Expedition folgt – und droht in der sich abermals zurück entwickelten Gesellschaft die Fehler zu wiederholen.
Das ist quasi die Kurzversion, denn die Narrative des Films angemessen wieder zu geben ist fast unmöglich. Zum einen, weil Zulawskis cineastische Vision zu groß war, es trotz beindruckendener expressiver (Massen-)Szenen schwer fällt, die Erzählstränge auseinander zu halten (…überbordende Dialoge und Monologe helfen auch nicht gerade). Zum anderen aber wohl auch, weil eine Vielzahl von Szenen (gut 20% des Filmes) nie gedreht wurden:
Als sich 1977 der Wind in Polen nämlich politisch drehte, meinte man im bereits gedrehten Material Regimekritik zu erkennen. Obwohl mit wenig Phantasie das Gegenteil zu deuten ist: Der Mensch ist allzu anfällig für Religion und wird sie sich im Zweifel immer selbst erfinden. Dass nun gerade die politische Kaste des damals kommunistischen Polens damals sich selbst gezeichnet sah, mag man als Ironie des Schicksals betrachten.
Erst 10 Jahre später montierte Zulawski eine Schnittfassung, in der alles Fehlende mit stummen polnischen Alltags-Szenen ersetzt wurde, über die Zulawski im Voice-Over beschrieb, was nun eigentlich zu sehen gewesen wäre.
Technischer Fakt am Rande: erst mit den digitalen Mitteln der letzten Jahre wurde es endlich möglich, die geplante Bildästhetik zu realisieren: Um nämlich den Look der fernen Welt herzustellen, wurden 1975/76 beim Dreh Grünfilter benutzt. Dies, um die Rotwerte zu filtern und einen kalten, entsättigten außerweltlichen Look zu erzeugen -und nicht zuletzt, um dies quasi im Negativ einzubrennen und seinerzeit beschönigende Nacharbeit zu verhindern. Die weiteren Kopier-Prozesse, die den Rest der Farben etablieren sollten, wurden nie beendet. Wenigstens kurz vor Zulawskis Tod konnte man ihm nach digitaler Restauration den Film so zeigen, wie er zumindest visuell gedacht war.
Nach der Vorstellung sprach ich mit einem Mitarbeiter des polnischen Studios Kadr, das für die wirklich fantastische Bildrestauration verantwortlich war. Er fügte unter anderem an, dass selbst er die teils wortgewaltigen Monologe und Dialoge in englisch als Untertitel liest – da sie im Original auch noch in einer altertümlichen polnischen Diktion daher kommen. Meinen insgeheimen Wunsch ab und zu anzuhalten und die inhaltsschwere Gesagte sacken zu lassen, konterte er (selbst als Fan des Films) “bloß nicht, dann wäre es ja noch länger”/”irgendwann möchte mann nur noch, dass es vorbei ist”.
Man stellt sich über die ganze epische Laufzeit immer wieder die Frage: Wäre es plausibler, kohärenter, wenn nicht ein Wie lang wäre das ganze, wenn alles Material realisiert worden wäre ? Ein cineastischer Riesen-Ritt allemal. Und ganz am Rande: auch bei 2001 – Odyssee im Weltall haben sich Generationen von Kinogängern beim ersten Schauen gefragt: Ist das Irrsinn – oder genial ?
Test Pilota Pirxa [Der Test des Piloten Pirx] (Polen/UdSSR) 1979, Regie: Marek Piestrak)
Das Q&A fand unverständlicher Weise vor dem Film statt und war auch noch umständlich moderiert. Ein Umstand, der Filmfans mit Terminplan gut 20min kostete. Der greise Regisseur zeigte sich sehr erstaunt, dass der Film ein so großes Interesse fand. Wie ich feststellen sollte, zu Recht. (Das Erstaunen, nicht das Interesse, denn:)
Ein kreuznormales Politdrama im Gewande eines Science Fiction. Um die Einsetzbarkeit einer neuen Reihe von Androiden zu testen, wird Testpilot Pirx angeheuert, eine gemischte Crew auf einer Weltraum-Mission zu führen. Ihm wird bewusst vorenthalten, wer von seiner Besatzung Android ist oder nicht – um seine Objektivität zu garantieren. Interessen der Industrie spielen jedoch auch eine Rolle und so kommt es irgendwann fast zur Katastrophe. Die Frage, ob im Angesicht einer Katastrophe Mensch oder Maschine besser handeln können, wird hier schlüssig, aber auch etwas plakativ verarbeitet.
Die etwas hölzerne Szenensetzung trägt nicht gerade bei – und so ging ich das ein oder anderer Mal unbeabsichtigt quasi wie ein Astronaut minutenweise in den Raumschlaf. Womöglich sind mir somit wenigstens einige der -selbst für die Spätsiebziger und den Ostblock- putzigen Spezial-und Toneffekte erspart geblieben.
Golden Exits (USA, Regie: Alex Ross Perry)
Ganz hingerissen war ich beim Kartenkauf nicht: Alex Ross Perry’s leicht wort- und dramalastiges Kammerspiel Queen of Earth hat mich auf der Berlinale 2015 durchaus beeindruckt …wenn auch nicht begeistert. Am Ende war ich dann hingerissen:
Ins etablierte Mittelschicht-Brooklyn trifft die junge, unbewusst-verführerische Australierin Naomi ein. Sie hofft, als Assistentin von Archivar Nick eine Green Card zu erhalten. Nicks Ehe läuft auf seit einiger Zeit auf eher etablierten als herzlichen Bahnen. Nach Affären seinerseits ist das Verhältnis zu seiner Frau Alyssa nie wieder das selbe geworden. Die wiederum steht stark unter demeinfluss ihrer dominanten, nüchtern-desillusionierten Schwester Gwendolyn. Diese wiederum ahnt jedoch nicht, dass ihre persönliche Assistentin Sam seit Jahren für sie mehr als nur zarte Gefühle hegt. Was Sam immer wieder ihrer guten und verständnisvollen Freundin Jess klagt. Jess hat vor einiger Zeit ihren Arbeitskollegen, den Indie-Musikproduzenten Buddy geheiratet. Sie fragt sich mittlerweile ebenfalls, ob die beiden noch mehr als die Musikproduktion verbindet.
Kommt ihr noch mit ? Langsam und sehr geschickt werden wir in Alex’ Familien-und Freundeskreis eingeführt. Ohne voneinander zu wissen, sind die meisten Protagonisten über zwei Ecken miteinander bekannt. In dieses Small-World-Szenario platzt nun quasi Naomi und setzt ohne es zu wissen eine Reihe von lange aufgeschobenen Entscheidungen in Gang. Nicht nur die kurz vor der Midlife-Crisis stehenden Männer glauben, ihre Lebenssituation neu bewerten zu müssen.
Ein wunderbarer Cast, exzellente und realistische Dialoge, ein sich spielerisch entwickelnder Plot: Man möchte Regisseur Perry einfach nur die Hand schütteln, denn dies ist ganz tolles Erwachsenen-Kino. Große Fragen, im Kleinkosmos beleuchtet.
Im Q&A zeigte sich Alex Ross Perry im übrigen dankbar, seit Jahren mit einem nahezu unverändertem Stab zu arbeiten. So hat es nur zweier Sätze bedarft, um seinen Komponisten zu instruieren. Und am ersten Drehtag war man beispielsweise drei(!) Stunden vor Plan fertig.
Una Mujer Fantastica (Chile/USA/Deutschland/Spanien, Regie: Sebastián Lelio)
Mich am Ende eines so langen Tages und nach einem so fantastischen Vorfilm um halb Elf nochmal zu überzeugen – Alle Achtung:
Marina lebt als Trans-Frau einigermaßen unbelästigt in Santiago. Die aufstrebende Amateur-Sängerin und Gelegenheits-Kellnerin ist in einer Beziehung mit dem geschiedenen Unternehmer Orlando. Die Familie des Mittfünfzigers sowie seine Ex-Frau versuchen das Thema zu ignorieren. Homo-oder Transsexualität wird in Chile immer noch bestenfalls toleriert. (Wie ich schon in einem Film des letzten Jahres feststellen durfte, sind Gewaltausschreigungen noch an der Tagesordnung.)
Als Orlando nach einer Feier plötzlich erkrankt und kurz darauf stirbt, bricht für Marina ihre kleine Welt zusammen. Das nicht genug, steigt ihr nun Orlandos Familie aufs Dach, will sie aus der gemeinsamen Wohnung komplementieren und verbittet sich die Teilnahme an den Trauerfeierlichkeiten. Eine Kommisarin “nervt” derweil, da sie unentwegt meint beweisen zu müssen, dass Marina von Orlando missbraucht oder gar misshandelt geworden wäre. Peinliche Verhöre und Untersuchungen folgen. Wenigstens Marinas Schwester und Schwager sind ihr ein Halt. Wenn auch auf tragische Weise, so wird sie ihre nicht nur sexuelle Identtität nochmals neu etablieren müssen.
Wie sanft-störrisch und würdevoll Daniela Vega als Marina sich ihr Recht zu trauern erkämpft, wie es ihr endlich gelingt ihren persönlichen Abschied von Orlando zu finden, ist bewegendes Kino. Ich hätte zwar Golden Exits mindestens genau so gerne im Wettbewerb gesehen, doch drücke ich diesem Film die Daumen.