Nun weiß ich auch, was “Nach Beginn der Vorstellung kein Anrecht auf Einlass/Späteinlass nur nach Maßgabe” bedeutet. Scheinbar den angekündigten BVG Streik morgen vorweg nehmend, kroch die U9 die letzten 2 Stationen quasi geradezu. Völlig atemlos angekommen fand ich mich mit 40 weiteren vor verschlossenen Türen. Um ehrlich zu sein: Wie wir dann ca. 8min nach Beginn dann sehr behutsam auf zwei verschiedene Eingängen geleitet wurden welche noch Sitzplätze boten, war dann doch professionell. Komplett abgewiesen wurde hingegen zuvor ein Mann mit Handkoffer(!) – der sich wortreich erboste. Wie man im Jahr 2019 annehmen kann, in eine Veranstaltung dieser Größe mit Gepäck zu gelangen, bzw. wie man sämtliche Hinweise übersehen kann – es wird sein Geheimnis bleiben.
Synonymes (Frankreich, Israel, Deutschland; Regie: Nadav Lapid)
Yoav hat seiner Heimat Israel den Rücken gekehrt. Das Land ist dem jungen Mann mittlerweile nur noch verhasst und er will sich in Paris neu erfinden.
Dort wird ihm allerdings umgehend sein weniges Hab und Gut gestohlen, als er in einer leerstehenden Altbau-Wohnung ein Bad nimmt. Aus seinem Missgeschick retten den Nackten ein junges Paar aus dem Stockwerk darüber. Die Musikerin Caroline und der angehende Schriftsteller Emile. Dessen Vater ist Fabrikant und finanziert das weitläufige Appartment sowie die Poeten-Ambitionen des Sohnes.
Das Angebot dort einzuziehen schlägt Yoav aus. In geschenkten Klamotten seiner beiden Wohltäter macht er sich in sein gemietetes Domizil auf, eine einfachste Wohnung am Rande des Existenzminimums. Paradoxerweise findet er ausgerechnet als Sicherheitskraft in der israelischen Botschaft einen Zeit-Job. Fraglos, dass es dabei zu haarsträubenden Komplikationen kommen wird.
Yoav liegt alles daran, jegliches israelische an sich auszumerzen. Beinahe besessen paukt er Vokabeln, obwohl er fließend französisch spricht und weigert sich, selbst mit Landsleuten hebräisch zu parlieren. Sein Idealismus ist fast schon verblendet und für sein Umfeld häufig zu viel.
Nicht lang, und nicht nur der antriebslose Emile erliegt (im platonischen Sinn) der Faszination der Faszination dieses Agent provocateur. Die ätherische Caroline gibt sich Yoav auch körperlich hin …von Emile geduldet.
Doch auch eine sogar von Emile ins Spiel gebrachte Scheinhochzeit kann Yoav nicht ins Lot bringen. Spätestens, als er im Einbürgerungstest übers Ziel hinaus schießt, wird klar: Wenn er nicht Obacht gibt, wird er Gefahr laufen bald quasi staatenlos da zu stehen.
Was ihn wirklich umtreibt können erst nach und nach erahnen. Die Dialoge sind zeitweilig etwas arthouse-mäßig verstiegen – und die Bildsprache wirkt zuweilen unentschlossen, wenn auch nicht ohne Geschick. Doch es ist durchaus einnehmend, dem Treiben dieses jungen Wilden bis zum halbbitteren Ende zuzusehen.
Nasht [Leakage] (Iran, Tschechische Republik; Regie: Suzan Iravanian)
In den letzten Jahren hatte ich überaus gute Erfahrungen mit iranischen Filmen gemacht. Außergewöhnliche Settings, starke, manchmal auch mysteriöse Plots. Daher lockte mich “Nasht” mit seiner absurden Story.
Foziye, gerade dabei Rente zu beantragen, entdeckt, dass aus ihrem Körper Öl austritt. Sie lebt mit Schwester, Tochter und Mutter in häuslicher Gemeinschaft, ihr Mann wird nach einem Unfall vermisst. Vor der Familie hält sie es die längste Zeit verschämt geheim.
Ihre abstruse Situation, die sie anfänglich mehr schockiert, wird später zum Hoffnungs-Vehikel, damit bzw. dadurch ein Ausreise Visum zu erhalten. Hat ihr Los mit dem Verschwinden es Mannes zu tun ?
Der verstiegene Plot entzieht sich einer konstruktiven Nacherzählung mit seiner Vielzahl an Fährten und Andeutungen. Ein sehr lokales Beben, im Dach klafft danach ein Loch. Es geht in ein quasi-Asyl auf dem Lande. Es wird weder völlig klar, bei wem sie da unterkommen – und warum einer der Gastgeber ständig Glaskannen mit Wasser in der Scheune kontrolliert. “Das Land ist kontaminiert” heißt es irgendwann.
Rätselhaft verklausuliert, verwirrt “Nasht” mehr als er fasziniert. Ob dies nun der kulturpolitischen Situation im Heimatland oder der eigenen künstlerischen Vision der Regisseurin geschuldet ist, bleibt dahin gestellt.
Regisseurin Suzan Iravanian wurde im Q&A in der Tat von einem Zuschauer gebeten, dies alles dann doch bitte zu erklären. Hernach war auch ich nicht viel klüger.
Es ehrt sie zuzugeben, dass ihr Editor sie überzeugte, nicht zu harsch mit dem Publikum zu sein: Der ursprüngliche Rohschnitt ihrer Vision war wohl noch weniger zugänglich!
Vielleicht reicht es aber manchmal auch etwas zu erleben und erfahren – statt es zu verstehen.
Eynayim Sheli [Chained] (Israel,Deutschland; Regie: Yaron Shani)
Der massige Streifen-Polizist Rashi hat eine unbeirrbare Auffassung von Recht und Ordnung. Er lebt verheiratet mit der etwas jüngeren Avigail und Yasmin, deren Tochter aus erster Ehe.
Im Grunde herzensgut, schießt der Bulle mit seinem unbeirrbaren Rechtsempfinden und seinen Moralvorstellungen jedoch ein ums andere Mal übers Ziel hinaus. Auch im Privatleben, wo er -es durchaus gut meinend- die dadurch in die Rebellion gedrängte- Yasmin mit seinen Vorschriften geradezu einsperrt.
Als er bei sich einer Routine Kontrolle mit dem jugendlichen Sohn eines hohen Tieres bei der Polizei anlegt, folgt kurz darauf ein Eklat: Eine Schmutzkampagne gegen ihn wird inszeniert und es kommt für Rashi zur Suspension und einer internen Untersuchung. Dauerhaft zuhause, kommt es zwangsläufig zu noch mehr Reibereien mit Frau und Tochter.
Seine Sturheit macht ihn unfähig, seine selbstgewählten Rollenmuster zu überkommen. Es wird ihn schließlich in die Katastrophe führen.
Nicht nur das digitalem HD-Material, besonders die improvisierten Szenen machten die Handlung eindringlich, vielfach bis an die Grenze. Hyperrealismus sozusagen.
Böse Zungen würden behaupten, dafür könnte man auch Reality TV einschalten. Denn die teilweise (wie im echten Leben) scheinbar endlos kreisenden Dialog-Streitigkeiten weisen wie im richtigen Leben erhebliche Redundanz auf. Dafür ist hier nicht ein einziger gestelzter Dialogsatz zu finden.
Ein äußerst aufschlussreiches Q&A schloss sich an :
Regisseur Yaron Shani arbeitet ausschließlich mit Laiendarstellern, die er sorgfältig nach Präsenz und teilweise nach deren Lebenserfahrungen aussucht. In ausgiebigen Proben werden die Beziehungen und die Szenendynamik erprobt. Danach wird -zumeist in einem Take mit zwei Kameras- den Akteuren mit freien Dialogen freie Hand zur Improvisation gegeben.
Shani will so möglichst wahrhaftige Szenen schaffen, fernab von Schauspiel-Kunstwerk. Ihm kommt es, so sagt er, um den emotionalen Kern und eine möglichst wahrhaftige Auslotung von Wahrheiten an.
So war z.B. Eran Naim (in der Rolle des Rashi) tatsächlich 16 Jahre im Polizeidienst und wurde (wenn auch aus anderen Gründen) ebenso kalt geschasst wie im Film Rashi. Bis dahin, dass er sich nach Quittierung seines Dienstes später als Pizzabote wieder fand. Und sogar ehemalige Verdächtige beliefern musste.
Wenn Naim somit Stationen seines Lebens hier im Spiel wieder durchlebte, blieb es nicht aus, dass es bis hin zu echten Tränen ging.
Die Antwort auf die Frage, ob die bis ans Limit gehenden Darsteller psychologisch betreut worden wären, blieb Regisseur Shani teilweise schuldig. Er sei überzeugt, dass diese Arbeit für die beteiligten kathartisch gewesen ist. Wie für uns Zuschauer das Miterleben.
Der letzte Teil der Trilogie, an der Regisseur Yaron Shani 7 Jahre insgesamt gearbeitet hat (davon allein 1Jahr Dreharbeiten für alle Teile und 2 Jahre im Schnitt), soll im nächsten Jahr erscheinen.