Es geht langsam von der Sättigungs- in die Belastungsphase. Welcher Wochentag ist, schon seit Tagen ein paar Mal falsch gelegen. Seit dem Fauxpas am Sonntagmorgen Dreifach-Check der Tickets und Startzeiten. Was wird das für ein Tag, wenn gleich der erste Film so immersiv ist, so bewegt?
The roads not taken (Großbritannien, Regie: Sally Potter)
Wir begegnen Leo katatonisch im Bett liegend. Der ehemalige Schriftsteller ist mittlerweile Demenz-bedingt pflegebedürftig. Seine engagierte erwachesne Tochter Molly lotst ihn zu Arzt-Checkups und Einkäufen. Was erst einen Vormittag dauern sollte, bringt Molly dazu ihre Job-Termine mal um mal zu verschieben, später einen Auftrag zu verlieren.
Immer wieder halluziniert sich während des gemeinsamen Tages der murmelnde Leo an ganz anderen Stationen seines Lebens: Wir mit-erleben assoziative Parallel-Montagen von Bruchstücken seines Lebens. Trümmer, vor denen auch Leo zu stehen scheint. Durch seine Krankheit entrückt, phantasiert er etliche Situationen und Entscheidungen, die er bereut. Opfer, die er wohl nur bereit war für das Schreiben zu machen.
Dies Kaleidoskop von Erinnerungen, welches Regisseurin Sally Potter uns hier zeigt, offenbart uns Stück für Stück was Leos schwindenden Geist bewegt. Eine Reue, die sein Umfeld nicht ahnen kann.
Javier Bardem verkörpert überzeugend diesen gefallenen Menschen. Maskenhaft und irrend im Hier und Jetzt, in den Rückblenden häufig zögernd, hadernd. In Mexiko mit seiner ersten Frau nach einem tragischen Verlust. Im selbstgewählten Exil von zweiter Ehe auf einer griechischen Insel – in einer Urlauberin seine Tocher sehend.
Wann fing das an, wo ging es falsch… und was bleibt? Dass das Vergessen für ihn zu einer Art Erlösung führen mag, ist ein grausamer Gedanke. Doch vielleicht außer der unerschütterlichen Zuneigung Mollys ein letzter Trost.
Seine Tochter steht vor Entscheidungen, zu denen Leo nicht mehr in der Lage ist. Im Schluss des Abspanns widmet die Regisseurin den Film Nic Potter. Wie ich später lese, starb ihr Bruder an den Folgen der gleichen Krankheit.
Le sel de larmes [The salt of our tears] (Frankreich/Schweiz; Regie: Philippe Garrel)
Das Ende meiner französischen Glücks-Sträne: Offen gesagt, für mich ein Rätsel, wie es der Film auf die Berlinale und sogar in den Wettbewerb geschafft hat…Ich frage mich doch im Anschluss, was ich denn da gerade gesehen habe. Eine Beinah-Geschichte, eine halbe..? Wahrscheinlich -passenderweise- bloßes Kunsthandwerk.
Wir sehen den angehenden jungen Kunsttischler Luc. Bei seinem mittlerweile alternden Vater in die Lehre gegangen, hoff Luc nun, auf einer weiterführenden Akademie in Paris zu studieren. Aus seiner Kleinstadt für einen Tag zur Bewerbung nach Paris gereist, macht Luc die Zufalls-Bekanntschaft von Djemila. Sie turteln intensiv, doch zu Sex ist sie (noch) nicht bereit.
Zurück in der Provinz, weist Luc Anrufe Djemilas (die sich durchaus in ihn verguckt hat) ab. Denn es taucht zufällig Lucs Jugendfreundin Geneviève auf.. mit der es verblüffend unvermittelt zur Sache geht.. (das erste große Fragezeichen im Plot). Als er zur Akademie zugelassen wird, macht er jedoch mit Geneviève Schluss: Sie “beichtet” ihm nämlich, dass sie schwanger ist. Er wirft ihr rundheraus vor, ihn somit “betrogen” zu haben. Nach Fragezeichen nun Ausrufezeichen: Welches Jahr schreiben wir eigentlich? Diese unglaublich chauvinistische Dialogzeile wird ihm so durchgehen gelassen…
Ok, ich versuche es abzukürzen. (Hätte dem Film auch gut getan): In Paris verliebt er sich nach kurzer Zeit eher zufällig in Alice. Diesmal “wirklich”. Wie wir allerdings erst durch den ab und zu eingreifenden Erzähler(!) hören, sichtbar wird das für uns nicht…
Luc akzeptiert -warum auch immer- Alices Vorschlag, dass ein Kollege bei den Beiden einzieht, es wird ein Dauer-Provisorium … und wir hoffen, hoffen dass sich nun vielleicht ein gewisser Zauber á la Truffauts ‘Jules et Jim’ enstellt. Wir hoffen vergebens.
Dem Film fehlt so gut wie jeder Charme, der uns auch nur irgendwie berühren würde. Dass wir das Innenleben des Protagonisten nicht begreifen, hilft dabei natürlich nicht. Fatalerweise kommt Lucs Charakterisierung am schwächsten herüber, wirken nicht nur sein Vater sondern auch seine Love Interests authentischer. Der Mann ohne Eigenschaften.
Und auch der Film selbst scheint seiner eigenen Narrative nicht zu trauen. Denn oben erwähnter Off Erzähler macht hier und da mit dürren Sätzen unmotiviert den Erklär-Bär. Ganz oder gar nicht wäre souveräner gewesen.
Letztlich: selten auf der Berlinale eine dermaßen lapidare Schluss-Szene gesehen. Passend.
Palazzo die Giustizia [Ordinary justice] (Italien, Regie: Chiara Bellosi)
Der Film spielt zum Großteil auf dem Flur eines Gerichtsgebäudes. Auf den Wartebänken vor einem Sitzungssaal sehen sich eine Mutter mit sehr junger Tochter Luce und die Jugendliche Domenica mit ihrem Vater gegenüber. Letzterer steht vor Gericht, weil er nach (nicht bei) einem Überfall auf seine Tankstelle einen der beiden Räuber von hinten erschossen hat. Mutter und Tochter sind die Familie des überlebendem Räubers, der ebenfalls auf Plädoyer und Urteil wartet.
Nicht nur im Gerichtssaal wird verhandelt. Blicke der Wartenden treffen sich, Animositäten stehen im Raum. Luce will beschäftigt werden, ihre Mutter ist überfordert und gestresst. Domenica geht mit ihrem Vater dessen Zeugenaussage noch einmal durch, flirtet später mit einem Handwerker. Irgendwann sind Jugendliche und Kleinkind auf dem Flur allein.
Es ist für sie alle ein wichtiger, langer Tag. Regisseurin/Autorin Chiara Bellosi lässt uns nach und nach das Ausmaß der Geschichte erkennen. Ähnlich, wie sich in einer Verhandlung erst nach und nach das ganze Bild ergibt.
Ist die Bildgestaltung mehr als überzeugend (wiederum eine vom Doku-Film kommende Regie-Debütantin!), ist es der wiederholte Einsatz der Bildtiefe, der vollends beeindruckt.
Regisseurin Chiara Bellosi enthält sich klug einer Parteinahme, fällt und zeigt kein Urteil, sonder überlässt es uns. Doch am Ende des wortwörtlichen Tages sind die Töchter simd bereits weiter als die Erwachsenen…
Die Regisseurin verriet, dass sie zur Inspiration viele Stunden in Gerichtsgebäuden recherchiert habe. Das Skript fing an, als sie ein Kind sah, dass die Figur Luces inspirierte…
Surge (Vereintes Königreich, Regie: Aneil Karia)
Wie so mancher Film steht auch ‘Surge’ auf den Schultern eines anderen – und das muss ja kein Makel sein: Wo in ‘Falling Down’ (Joel Schumacher) 1993 allerdings etwas zweifelhafte Moral und konventionelle Dramaturgie das Bild bestimmten, machen sich es Aneil Karia und seine Drehbuchautoren nicht so leicht…
Wir verfolgen 48h im Leben von Joseph, einem Security-Angestellten im Stansted Airport, London. Der angespannt wirkende junge Mann scheint ein willkommenes Ziel zu sein für Witze von Kollegen, Reibereien mit einem Nachbarn – und immer wieder durch seinen Geduld raubenden Job beim Abtasten von Passagieren. (Das nächste Mal trete ich solchen Menschen mit mehr Respekt gegenüber).
Als ein offenbarer Übeltäter ihn überwältigt, geht es noch einmal gut. Bei einem Besuch bei seinen verhärmten und lieblosen Eltern in der Vorstadt steckt er dann wiederum ein: Nach erniedrigenden Kommentaren durch seinen Vater kommt es bei einem häuslichen Unfall zum Eklat.
Joseph stürmt blutend fort …und begibt sich in eine wahnsinnige Spirale von Ausbrüchen, die in Verwüstung und Gewalt enden werden.
Josephs psychischen Zusammenbruch erleben wir in aller Drastik. Womit nicht nur seine Taten gemeint sind: Sind wir schon in der ersten Hälfte des Filmes mit Handkamera und aufgrund langer Brennweiten und extrem flachem Fokus hyper-nah am Protagonisten dran (geschätzt zwei Drittel konzentriet sich die Kamera auf sein Gesicht oder seinen Blickwinkel aus)…so schaltet das ganze ab seinem Wahn-Lauf nochmal zwei Gänge höher.
Mit allen Konsequenzen. Wer im Kino nicht weit hinten sitzt, hat es aufgrund der stetig nervös zerrenden Kamera schwer.
Etliche Zuschauer in den vorderen Reihen, bei denen sich der Regisseur in einer kurzen Ansprache zu Beginn schon entschuldigte, verließen irgendwann den Raum. Bei der Bildgestaltung wurde wohl eher an TV-Verwertung gedacht, als wie es den Kinozuschauer erwischt.
In der Mitte sitzend, musste ich selbst ab circa dem letzten Dritel des Filmes mich darauf beschränken, die Story aus dem Augenwinkel verfolgen. Hätte ich nicht konsequent auf die Reihe vor mir statt auf die Leinwand geblickt, mir hätte schlimmeres als der kalte Schweiß geblüht, der sich schon längst eingestellt hatte. Und zum Kotzen ist der Film nun wirklich nicht.
Regisseur Karia sagte im Q&A, er wollte zeigen, wie nervenaufreibend der Alltag eines Großstadt-Molochs für labile Menschen sein muss. Das ist gelungen. Dass er beteuert, man hätte es nicht darauf angelegt, das Bild über Gebühr verruckeln, kann ich dennoch nicht glauben. Andererseits waren die Dreharbeiten durch den engen Zeitplan Ben Whishaws auf nur wenige Tage angelegt, sodass für Re-Shoots womögich keine Gelegenheit war.