Berlinale 2023, Tag 1: Schöne und unschöne Verhältnisse

She came to me (USA, Regie: Rebecca Miller)

Modern Family, USA – genau genommen: Families.

Steven ist Opernkomponist und steckt tief in einer Schreibblockade. Dabei hat eine Auftragsarbeit bald Termin. Bei einer ähnlichen Krise lernte er vor Jahren die Psychotherapeutin Patricia kennen. Spätere Heirat inklusive. Ob aus Liebe oder aus Stevens egozentrischer Anhänglichkeit erfahren wir nicht. Der erfolgreiche und eigenwillige Komponist spielt allerdings mittlerweile bei der kapriziösen Patricia die zweite Geige. Sie hat nicht nur einen Putzfimmel, sondern den gesmaten Haushalt im schicken Brooklyner Townhouse reglementiert im Griff. Sex nur nach Kalender.

Bei einem Spaziergang, um seinen Kopf frei zu bekommen, trifft Steven in einer Kneipe die Schlepper-Kapitänin Katrina. (Ja, ok hier nehmen die Kniffe des Drehbuchs langsam zu). Katrina ist eigentich als ehemalige Liebessüchtige auf dem Weg der Besserung. Doch geschickt manövriert die Rückfällige Steven zunächst auf ihren Kahn – und dann in ihr Bett. Für ihn alsbald ein peinlicher Lapsus – der immerhin seine Komponieren erneut kickstartet.

Einen Kickstart hat Julian, Patricias Sohn aus erster Ehe, mit seinen 18 Lenzen nicht nötig. Der Top-Schüler ist dazu noch über beide Ohren in die etwas jüngere Tereza verliebt. Deren Mutter Magdalena findet das erst durch Zufall heraus – denn sie ist Putzhilfe bei Komponisten-Gattin Patricia. Magdalenas Partner, der selbstgerechte Patriarch Trey, findet das noch weniger akzeptabel. Vor allem, weil es Trey gegen den Strich geht, dass seine hochbegabte Stieftochter Tereza so jung auf die Uni will. Trey plant, Julian anzuzeigen: Sex ist in den USA ungesetzlich, wenn einer der beiden unter 18 ist. Damit wäre Julian dann ein Leben lang als “sex offender” stigmatisiert.

(c) Protagonist Pictures

 

Das sind ja schöne Verhältnisse. Doch bei Regisseurin und Autorin Rebecca Miller kann man sicher sein, dass sie ihre Figuren bei allem humoristischen Potenzial nicht der Lächerlichkeit preisgibt. Die Konstellation des Plots verlangt uns zwar in punkto Glaubwürdigkeit einiges ab, doch die sympathisch gezeicheten Charaktere sind keine Karikaturen. Dieser komische Reigen ist gewieft in Szene gesetzt, die Pointen geschickt dosiert.

Wie oftmals bei Erich Kästner sehen die jungen Menschen die Dinge einfacher und klarer als die Erwachsenen in ihren Stadien der Verkorkstheit. “Dein Frontallappen ist erst mit 25 voll entwickelt – du kannst Entscheidungen noch nicht abschätzen” (Patricia zu Sohn Julian). “Was wenn wir uns verändern und uns nicht mehr wieder erkennen?” fragt Tereza später Julian. Er darauf: “Wir müssen uns einfach einander daran erinnern.”

In der zweiten Hälfte zieht der Plot noch zweimal an. So manche Wendung wirkt etwas gewollt. Auch wenn auf Deus-Ex-Machina verzichtet wird, kommt der beschleunigte Ausgang der Geschichte leicht forciert, nicht mit ganz so leichter Hand wie die anderthalb Stunden davor. Doch daran denkt man zu dem Zeitpunkt durchweg gut unterhalten kaum.

 

Matria (Spanien, Regie: Álvaro Gago)

Ramona ist Anfang 40 zwar gesundheitlich schon etwas angeschlagen, doch überaus durchsetzungsfähig und dynamisch. Die Vorarbeitern eines Reinigungsteams in einer Fabrik in der galizischen Provinz ist mit ihrer direkten Art von ihren Kolleginnen respektiert und geschätzt. Auch wenn sie sich nicht scheut, Andere schon mal vor den Kopf zu stoßen – Ramona hat gelernt, sich zu behaupten.

Als ein neuer Subunternehmer ihrem Team den mickrigen Lohn nochmals drücken will, stürmt die impulsive Frau dann auch nach einer Tirade aus dem Büro und schmeißt hin.

Nun hält Ramona nur noch ihr gelegentlicher Zweitjob auf einem Fischkutter über Wasser. Ihr unansehnlicher und nichtsnutziger Freund trägt außer Sauf-Blackouts und Grapschereien nichts zum Haushalt bei. Ramona hat außerdem dran zu knabbern, dass sich die vor kurzem ausgezogenen Tochter Estrella langsam von ihr entfremdet. Dabei will Ramona sie doch unterstützen und zu einem Studium überzeugen – auf dass Estrella bloß nicht so wie Mama in einer Sackgasse landet.

Vorwiegend mit dynamischer Handkamera dokumentiert und glaubhaft gespielt, bleiben bleiben in diesem Drama ein paar Zusammenhänge dann doch im Ungefähren.

Anderes erfahren wir auch erst spät: Dass Ramona schon eine Vielzahl an Partnern und gescheiterten Beziehungen hinter sich hat. (Wundern tut es uns freilich nicht).

Wobei Regisseur Álvaro Gago im Q&A unumwunden zugab, dass das Drehbuch auf Anraten seiner Freunde und Producer schon durch einige Revisionen ging, um die Verständlichkeit zu verbessern.

Gago lässt uns spüren, wie die fortgesetzten Rückschläge und die Tristheit für die ansonsten unbeirrbare Protagonistin immer schwerer zu ertragen sind.

Nach zahllosen Job-Absagen und Bewerbungen ist ein neuer Hilfsjob als Haushaltshilfe beim alternden Witwer Xosé ein vermeintlicher Lichtblick für Ramona. Sie knackt Xosés knorrigen Kern, ihre direkte Art lässt ihn etwas aufblühen. Doch Ramona muss sich wohl klar werden, dass sie in ihren heimatlichen Verhältnissen festgefahren ist. Etwas muss geschehen.

Eine durchaus einnehmende Milieu- und Charakterstudie (die Protagonistin beruht auf einer Freundin des Regisseurs, die -so versichert er- all dies durchgemacht hat).

Das (vorrangig muttersprachliche) Premieren-Publikum war überaus angetan. Und auch Ken Loach, das soziale Gewissen des britischen Kinos, wäre  wohl angetan.

In Loach’s 2007er “It’s a free world” landete die Protagonistin nach trotzigem Kampf allerdings desillusioniert wieder am ganz am Anfang. Álvaro Gagos Ramona bleibt dies erspart, auch wenn es ihr eine große Entscheidung abverlangt.

 

1 Gedanke zu „Berlinale 2023, Tag 1: Schöne und unschöne Verhältnisse“

Schreibe einen Kommentar zu Victoria - The British Berliner Antworten abbrechen

Zum Kommentieren bitte angezeigten Code eingeben. Please enter code to comment. *