Berlinale 2023, Tag 2: Zwei Stoiker, eine Überzeugungstäterin

Eins der heutigen Tickets wollte ich unbedingt haben – eins war eine Zweite Wahl – eins eine spontane Entscheidung. Das gesehene Ergebnis war fast konträr. Man ist bei der Ticketauswahl ja auf die Kurzbeschreibungen (englisch “blurbs”) auf der Berlinale Webseite angewiesen. Hier und da gibt es auch einen 90sec Ausschnitt oder Trailer, doch das ist eher die Ausnahme. Also muss der Filmfan ein hellseherisches Gespür entwickeln: Treffer, Geheimtip, oder Trostpreis. 

 

Arturo a los 30 | About Thirty (Argentinien, Regie: Martin Shanly)

Arturo hat offenbar Planlosigkeit und Entscheidungsschwäche zur Perfektion entwickelt. Die Haupthandlung zeigt den langen Tag, an dem der junge Mann an der Hochzeit einer Freundin teil nimmt. Arturo selbst ist über eine tragische Liebe immer noch nicht hinweg. Sein Angebeteter wird von Arturo “Voldemort” verbrämt – Arturos Freunde und Familie haben von seinem Lamento schon lange genug. Der frühe Tod seines Bruders hängt ihm außerdem noch nach.

In fast gesamter Länge parallel zwischen zwei Zeitebenen erzählt, assoziiert der Ich-Erzähler Anekdoten zu Freunden und Familie. Dabei verwirren die teils unvermittelten Rückblenden manchmal mehr als dass sie gestalten. Ob sie Arturos unstetigkeit spiegeln sollen? Lakonisch reihen sich Situationen aneinander, die Kerngeschichte eines langsam erwachsen werdenden Mannes ist keine große.

Immerhin ist dieser Arturo in seiner stoischen Tragikomik ein sympathischer, wenn auch manchmal nervender Beautiful Loser. Da geht es uns wie Arturos Umfeld. Und Chapeau für die Doppelfunktion von Martin Shanly als Regiseur und auch Hauptdatsteller. Jemand im Publikumsgespräch vergleicht ihn später mit Nanni Moretti, was er schüchtern dankend anerkennt. Der im Q&A etwas erratische Shanly wirkt schon recht nah an seiner Filmfigur.

© Un Puma

Der Take, die jetzt-Handlung kurz vor Ausbruch von Covid-19 spielen zu lassen ist vor dem Hintergrund der Tragweite der Pandemie etwas fragwürdig für ein paar komische Effekte. Andererseits rückt dieser Bezug Arturos vermeintliche Probleme im Finale in einen anderen Rahmen.

Die Dreharbeiten fanden statt, just als in Argentinien die Covid Beschränkungen gelockert wurden. Derzeit, bei fast 100% Inflation in seiner Heimat könne er keinem empfehlen dort ein solches Projekt zu starten, so Martin Shanly.

 

Cidade Rabat (Portugal/Frankreich, Regie: Susanna Nobre)

Ich habe aber auch ein Glück: noch eine Stoikerin als Hauptfigur…

Wir lernen Helena kennen, kurz bevor sie ihre Mutter verliert. Die bereits geschiedene Film-Produktionsassistentin hat sich ansonsten gut unter Kontrolle. Ihr Mimik gleicht einem weiblichen Buster Keaton. Mit ihrer Tochter kann sie gut, auch wenn der Teenager langsam aufmuckt. Was soll ich sonst noch schreiben? Denn eine echte Geschichte sehe ich hier nur schwerlich.

Die Szenenwechsel und Abfolge grenzen mit der Zeit ans Belanglose. Dazu ist die solide Inszenierung ist durchweg sachlich bis distanziert gehalten. Helenas Fährnisse reihen sich gefühlt ohne Progression aneinander. Als sie irgendwann endlich beim Anblick der fast ausgeräumten Wohnung der Mutter unter Tränen die Fassung verliert denkt man fast endlich: Ach so.

Konsequenter Weise schloss sich dem Film ein Q&A mit gestelzten Fragen und abgerungenen Antworten an. Ob dieser Filmtag noch gut endet ?

 

Reality (USA, Regie: Tina Satter)

Und wie! Die Regisseurin hatte ursprünglich das Transkript eines Verhör-Protokolls an einer Off-Broadway Bühne in Szene gesetzt. Auf diesen Text war sie per Zufall online gestoßen und erkannte sofort das dramatische Potenzial:

Im Sommer 2017 klopfen zwei FBI Beamte an das Auto-Fenster der jungen Analystin Reality Winner. Die ehemalige Air Force Soldatin arbeitet outgesourcet als Sprach-Expertin für die NSA. Im damaligen Trump-Amerika stößt sie dabei auf Dokumente die sie mehr beunruhigen als ihr eigentlicher Job: Der lange bestrittene Einfluss Russlands auf die US-Wahl 2016…

© Seaview

Die gespielt joviale Art der Field Agents und ein kurz darauf weitere vor Realitys Haus vorfahrende schwarze SUVs lassen uns schon zu Beginn tief ein- und lange nicht mehr ausatmen.

Fast in Realzeit entspinnt sich jetzt ein Katz-und-Maus-Spiel. Nur ist es eben kein Spiel, sondern bitterer Ernst. Wortwörtlich basierend auf der mitgeschnitten Vernehmung, die parallel zur Hausdurchsuchung geführt wird, erleben wir wie sich die Schlinge um den Hals der Protagonistin ganz, ganz langsam zu zieht. Die Beamten wissen längst und viel mehr als der jungen Frau recht sein kann. Und Reality weiß, dass sie so lange es geht mitspielen muss.

Dass man -obwohl der Ausgang der Geschichte bekannt ist- immer wieder den Atem anhält, ist frappant und das Verdienst von Regisseurin Satter und ihrer Hauptdarsteller. Denn es gab ja nur ein Tondokument – die Kamera-Einstellungen, das Blocking, die schauspielerischen Leistungen – da kann sich mancher “Thriller” eine Scheibe abschneiden.

 

Der Vollständigkeit: Reality Winner ist nach einer immer noch umstrittenen Verurteilung auf Bewährung entlassen – nach einer der längsten Haftstrafen für ein derartiges Vergehen. Mehr als alles andere eine politische Abschreckung für zukünftige Whistleblower. Im Abspann ein Zitat von Reality Winner “I know it was secret. But I also knew I had pledged service to the american people.”

Belohnt wurde all dies mit tosendem Applaus. Später beim Q&A brandet der nochmal auf, als die Regisseurin auf die Eltern und die Schwester von Reality Winner im heutigen Publikum deutet.

Auf dass gerade in diesen Zeiten -und auch auf anderer Seite! – sich Menschen finden, die das Richtige als ihre gefährliche Pflicht ansehen.

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