Berlinale 2023, Tag 4: Psychokrieg, Familienaufstellung und Narben auf der Seele

Im toten Winkel | In the blind spot (Deutschland, Regie: Ayşe Polat)

Eine deutsche Dokumentarfilmerin und ihr Kameramann sind dabei, in der Türkei Interviews in einem kurdischen Dorf vorzubereiten. Ein von dort stammender Anwalt soll und will ihnen dabei Rede und Antwort stehen. Schon sehr bald platzen Verabredungen, kommt es zu offenbar beunruhigenden Anrufen. Auf einer Landstraße platzt ihre Windschutzscheibe. Steinschlag, angeblich. Das von ihrer Dolmetscherin unaufgefordert mitgebrachte Kind Melek plappert dann bizarrerweise Details aus, die den Anwalt vollends verunsichern.

Zu spät bemerken die beiden Dokumentarfilmer ihre gefährliche Sackgasse. Dass ihr Thema verschwundene Menschen Kreise gezogen hat. Zur Flucht kommt es nicht mehr.

Dieser vermeintliche Beginn der Ereignisse ist nur die Spitze des Eisberges. In zwei weiteren Kapiteln wird das Geschehen(e) immer mehr ausgeweitet. Das exzellente Drehbuch nutzt nicht-lineare Erzählweise, um einen Plot nicht in Abfolge sondern ergründend zu erzählen.

Unsere fokale Figur wird der Geheimdienstler Zafer, der moralische Bedenken offenbar schon lange aufgegeben hat. Er versucht (mit immer weniger Erfolg), Familie, Karriere und Verdachtsmomente seiner Vorgesetzen zu balancieren. Dann beginnt er, heimlich mit seinem Smartphone zu filmen. Als er später jedoch selbst anonyme Videos von sich und seiner Familie erhält, beginnt er den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wer beobachtet hier wen? Die Paranoia wird fühlbar.

Auch von der Bildgestaltung wagen wir -wie die Charaktere- bald nicht mehr, unseren Vermutungen zu trauen: Gerade aufgenommenes Dokumaterial, später die Handy-Aufnahmen, Überwachungskameras, Fernrohrperspektiven werden benutzt – nicht immer erkennbar, von wem. Beobachtete Beobachter.

Scheinbar absurde Details ergeben nach einiger Zeit (und für die Protagonisten zu spät) Sinn – und lassen doch Raum für immer neue Zweifel und sich neu ergebende Vermutungen. Man ertappt sich, wie man in Whodunit Manier mit rät. Nur dass hier nicht mehr und das “wer” geht, sondern ob man seine Haut noch retten kann.

Ayşe Polat (wiederum hier auch Drehbuch) ist nicht nur ein waschechter Thriller gelungen, sondern vorrangig ein Psychogramm von Menschen in totalitären Strukturen. Durchweg packende Darstellungen, allen voran Ahmet Varli als Geheimpolizist am breaking point – und Çağla Yurga als beängstigend ernstes Kind Melek runden diesen eindrücklichen Film ab.

 

Mummola | Family time (Finnland/Schweden, Regie: Tia Kouvo)

Wir erleben eine finnische Familie, deren drei Generationen sich im ländlichen Heim der Großeltern treffen. Haushalts-Vorbereitungen, Plaudern, Saunagänge, Geplänkel ums Fernsehprogramm und – ein Opa der sich mit und wegen seiner Trinkerei fortgesetzt absondert. Der Umgang lakonisch aber herzlich.

“Mummola” stellt dies fast ausschließlich in statisch arrangierten Tableaus dar. Die fixierte Kamera lässt das ganze nach und nach wie ein Diorama wirken.

Film lebt von der Montage. Das Abbildende bringt er von der Fotografie mit, das Schauspiel vom klassischen Theater.  vom Schauspiel. Somit erleben wir in Tia Kouvos Sozialstudie über lange Strecken eher ein Theaterstück. Die Entscheidung auf Fahrten, Schwenks zu verzichten und die einzige Nahaufnahme für das Schlussbild aufzusparen, ist für dieses Genre schon eine außergewöhnliche.

Der zweite Teil, auch als solcher benannt, spielt im weiteren Verlauf des Jahres und wechselt dann die Schauplätze, wenn es auch hier und da beliebig scheint. Ein ausziehender Sohn, ein Vater in einer Job Weiterbildung, Ehezwist. Bis auf einmal jemand nicht mehr da ist.

Im (wiederum aufgrund diffuser Fragen aus dem Publikum und zögernder Antworten unergiebigen) Q&A trifft die Regisseurin dann endlich den Nagel auf den Kopf: Wenn man sich mit der Familie vielleicht nur zweimal im Jahr trifft – so sind das in manchen Fällen vielleicht noch 20 Beisammensein oder weniger. Was machen wir mit dieser Zeit?

Um diesen Punkt zu machen, hat Tia Kouvo einen langen Weg gewählt. So wahr er auch ist.

 

Silver haze (Niederlande/Vereintes Königreich, Regie: Sacha Polak)

…als dritter Film war ich am Ende des Tages nicht mehr ganz von meiner eigenen Ticketwahl überzeugt. Doch am Ende musste ich sagen, dass Silver Haze sogar im Wettbewerb eine gute Figur gemacht hätte!

Die junge Krankenschwester Franky hat nicht nur Narben am gesamten Oberkörper. Als Kind wurde bei einem Feuer in dem ihr Bruder starb ihre Haut an Brust und Armen entstellIt. Im Beruf fürsorglich und verständnisvoll, fällt es ihr schwer, sich auf Menschen einzulassen. Ihr Boyfriend braucht sie mehr als sie ihn.

Ihr proletarisches Umfeld gebiert allerdings auch nicht gerade eine große Auswahl an Partnern, die Franky für ebenbürtig hält. Zuhause herrscht ein ruppiger, aber herzlicher Ton. Die oft alkoholisierte Mutter hat genau wie Franky und ihre Schwester Leah die Familientragödie nie wirklich verwunden. Zudem alle drei eine nie aufgeklärte Brandstiftung durch die Geliebte ihres damaligen Mannes bzw. Vaters vermuten. Vor allem in Franky gären seit 15 Jahren Rachegedanken.

Franky begegnet der labilen Florence, die in ihrem Krankenhaus Patientin nach einem Suizid-Versuch ist. Die labile Florence fasziniert sie, man geht aus, verbündet sich und – verliebt sich schließlich. Eine Erfüllung bringt dies jedoch nicht: Familie und Umfeld reagieren brutal homophob auf gleichgeschlechtliche Zuneigung.

Florence sagt zu Franky bald: “I’m a bad person. I mean it. You have to know that.” Bald darauf merkt Franky, dass die psychischen Probleme ihrer ersten wirklichen Liebe tatsächlich weitaus massiver sind als sie es wird aushalten können. Dafür wird Florences weise Ziehmutter Alice, bei der die Beiden eine Heimstatt finden, zu einer Person, die sie und ihre Gefühlswelt wie noch niemand zuvor versteht.

© Viking Film

Die vermeintlich nervös springende Narrative fordert zunächst. Doch man das Erzähltempo erscheint alsbald der Story und den Charakteren angemessen. Einnehmende Working Class Energie durchzieht den gesamten Film, der erst am Ende dieser Geschichte zur Ruhe kommt.

Dass es nicht die erste Zusammenarbeit von Sacha Polak mit Vicky Knight ist, spürt man. Die  Laien(!)darstellerin lässt sich in die Rolle fallen, die Regisseurin und Autorin wusste, für wen sie schreibt und was sie ihr zutrauen kann.

Sacha Polak und ihre Produzentin starteten die Geschichte mit einem bloßen 16seitigen Entwurf, der glücklicherweise auf positive Reaktion beim Niederländischen Filmfond und der BBC stieß. Mit einer minimalen Crew mit einem Budget von gerade mal 1,2 Mio Euro gedreht, wurde den Hauptdarstellern häufig Raum für Improvisation gelassen.

 

 

 

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