Berlinale 2023, Tag 5: Einzelhaft, Trauer-Vorarbeit und Abnabelung

Inside (Griechenland/Deutschland/Belgien, Regie: Vasilis Katsoupis)

Ein namenloser Protagonist wird auf einem Rooftop-Penthouse per Helikopter abgesetzt. Er soll aus dem kühl-modernen Luxus-Apartment Gemälde stehlen. Die bestens gesicherte, ausladende Wohnung gehört einem berühmten Architekten und Kunstsammler.

Das Außenteam hat sich in die Alarmanlage reingehackt, doch als die Komplizen des Diebes von draußen das System erneut zur Flucht deaktivieren wollen, wird es stattdessen vollends verriegelt. Der Dieb sitzt in der perfekten Falle. Der Kontakt nach außen bricht ab, die mehrere Zentner schwere Tür schalldicht. Sein Kontakt nach außen bricht ab, das Telefon außer Betrieb.

Umgeben von mannigfaltigen Skulpturen, Installationen und Gemälden wird es für den den Einzelhäftling langsam auch ein Kampf ums Überleben. Der Kühlschrank so gut wie leer, die Wasserversorgung außer Betrieb,  die Klimakontrolle nach dem Hacking außer Rand und Band.

Mit der Zeit muss er erfinderisch werden, vor allem was Wasser und Nahrung betrifft. Aus Stunden werden Tage, aus Tagen verzweifelte Wochen. Er muss zu immer drastischeren Maßnahmen greifen. Möbel werden für Fluchtstrategien zerlegt oder aufgetürmt, doch dieses Luxusgefängnis ist so perfekt hermetisch wie die bruchfesten Panoramascheiben. 

(c) Heretic

Wer ein traditionelles Heist-Movie erwartet, muss sich im falschen Film wähnen und -wie der Protagonist- umdenken. Aus Einbrechen wird Ausbrechen, wird Überleben.

Wir ahnen dann, dass der Protagonist Malerei nicht nur schätzt, sondern wohl auch selbst künstlerische Ambitionen hatte. Parallel zu einem letzten verzweifelten Ausbruchsversuch wird er mit dem, was er zur Hand hat auf den sachlichen Beton-Wänden selbst kreativ. Oder ist er selbst das Kunstwerk?

Elegant changierend zwischen Kühle und Intensität inszenierte Langfilm Debütant Katsoupis diese sehenswerte Deformation und Transformation. 

Zurecht ganz auf das Powerhouse William Dafoe setzend, der auch an der Ausarbeitung einiger Szenen mitarbeitete.

 

Tótem (Mexico/Dänemark/Frankreich, Regie: Lila Avilés)

“Was hast Du Dir gewünscht, Sol?” –  “Dass Papa nicht sterben muss”

Diese Sätze nach einem zunächst beliebig wirkenden Intro scheinen das Genre früh abzustecken. Doch die Handlung kommt bis zur Mitte mit allerlei Geplänkel daher.

Wir sind bei den Planungen für eine Geburtstagsfeier dabei. Ehefrau, Schwägerinnen, nahe Bekannte und der Opa wollen alles dran tun, den Geburtstag des Malers Tona besonders gut werden zu lassen. Denn es, so sind sich alle bewusst, vermutlich sein letzter sein. Tona ist überwiegend bettlägerig. Er wird zu Hause gepflegt, unheilbar erkrankt. (Das Skript lässt uns überwiegend mit Behandlungsdetails und -optionen in Ruhe.)

Einige in der Familie sind wiederum soweit, Schamanen oder Geistheiler bestellt zu haben. Dies sorgt trotz der Spannung, die in der Luft liegt, für einige humoristische Szenen. Schon wieder (wie auch in “Arturo..” und “Cidade Rabat”) sind unvermittelte Schnitte und Szenenwechsel das Mittel der Wahl – ob hier Editing das Skript retten sollte.

(c) Limerencia

Inmitten des Ganzen steht für uns Tonas Tochter, das Mädchen Sol (Naíma Sentíes). Sie will die Entscheidung des Papas nicht begreifen, in seinem maladen Zustand zumeist im Krankenbett für sich sein zu wollen. Das Kind wird von den Erwachsenen beschäftigt, geht im Haushalt auf Entdeckung – und darf dann doch endlich ins Zimmer des Vaters. Die traurige Miene, der tiefe Blick von Naíma Sentíes sind das, was wir vor allem mitnehmen werden.

Was einen überlegen lässt, ab welchem Alter man eine solche Rolle einer Kinder-Schauspielerin zumuten kann.

Die abendliche Fiesta kommt dann in Gange und alle versuchen, ihre Zuneigung (vielleicht zum letzten Mal) zum Ausdruck zu bringen. Ab hier endlich bewegt der vorher scheinbar mäandernde Film dann doch immer mehr. Bis hin zum bedrückend-ergreifenden Schlussbild. “Was hast Du Dir gewünscht, Tona?” – “Ich wünsche mir …nichts”

Gewidmete meiner Tochter, schreibt Lila Avilés im Nachspann.

 

Sages-femmes | Midwives (Frankreich, Regie: Léa Fehner)

Sofia und Louise sind “die Neuen” in einer Geburtshilfe-Station einer großstädtischen französischen Klinik. Die ambitionierte Sofia ist in der Ausbildung einiges voraus und langweilt sich somit in den ihr zugeteilten Geburtsvorbereitungs-Kursen. Louise ist noch etwas grün und hat beim Einarbeiten Mühe mit der Ungeduld der hochprofessionellen Oberschwester Bénédicte.

Auf der Geburtshilfe-Station ist Überforderung die Norm, jeder im routinierten Team betreut häufig bis zu vier werdende Mütter. Louise gewinnt bald Elan und Selbstvertrauen und blüht mit mehr Verantwortung auf. Die selbstambitionierte Sofia dagegen scheitert (zerbricht fast?) an einem Beinahe-Unglücksfall, den sie nicht einmal verschuldet hat, der vielmehr dem Personalschlüssel und mangelnder Gerätewartung anzulisten ist.

Während Louise bald zum belastbaren und geschätzten Teammitglied wird, verordnet man der vor Selbstzweifeln kaum noch handlungsfähigen Sofia eine Zwangspause.

Bei den Geburten ihrer eigenen Kinder, so Regisseurin Fehner, kam es seinerzeit zu Komplikationen. Es waren die Hingabe und das menschliche Engagement das sie auf Station erlebte, was sie später zum Thema dieses Filmes inspiriert hat. Diesen Frauen, als auch ihrer prekären Lage wollte sie ein Zeichen setzen.

“Sages-femmes”‘ großer Verdienst ist, uns den herausfordernden Alltag dieses noblen Berufs menschlich nahbar zu machen.

Die Charaktere und Szenen wurden von der Regisseurin zusammen mit hier zu sehenden Jungschauspielern der Comedie-francaise entwickelt. Darsteller wie Regie überzeugen durchweg, und wenn ihne dabei das ein parr Klischees durchgegangen ist – was soll’s.

(c) Geko Films

Die Akteure machten teils nur eine kurze Hospitanz bei Hebammen einer “echten” Station. Reale Geburten wurden -unter Einwilligung der Eltern- unter Beisein der Darsteller mitgefilmt und später mit nachgestellten Aufnahmen erweitert. Das realistische Ergebnis bewegt ein ums andere Mal.

Im Q&A erfahren wir von Regisseurin Fehner außerdem, dass Hebammen in der Tat häufig -ganz wie im Film- ins kalte Wasser geschmissen werden und die Einarbeitung quasi entfällt. Ob denn die “echten” Hebammen den Film schon gesehen haben, will jemand wissen. Léa Fehner sagt, in der Tat und dass jenes Screening sehr emotional aufgenommen wurde – und einer ihrer bewegendsten Momente war.

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