Berlinale 2023, Tag 6: Erscheinung, Beschwörung und Enthaltung

Disco Boy (Frankreich/Italien/Belgien/Polen, Regie: Giacomo Abbruzese)

Die Belarussen Aleksei und Mikhail überqueren illegal mehrere Grenzen. Die zielstrebigen jungen Männer wollen in die französische Fremdenlegion aufgenommen werden um, irgendwann mit neuem Pass, ihre Vergangenheit und auch Heimat hinter sich zu lassen.. Doch nur der Aleksei kommt durch und verliert seinen einzigen wirklichen Freund.

In der Truppe glänzt der als Waise aufgewachsene und bekommt Respekt. Doch auch wenn er distanziert kameradschaftlich ist, bleibt Aleksei verschlossen. Bei einer Mission, die in Nigeria französiche Geiseln aus der Hand von Öko-Terroristen befreien soll, geraten sie in einen nächtlichen Hinterhalt. Aleksei tötet im Nahkampf einen Gegner, muss jedoch selbst verletzt ausgeflogen werden.

Wenn auch genesen, scheint ihm der Drill immer mehr kalt zu lassen. Bei einem Clubbesuch mit den Kameraden erblickt Aleksei die Tänzerin “Manuela”, die ihn magisch anzieht. Sie ist aus Nigeria geflohen…

© Films Grand Huit

Dankenswerter Weise dosiert Regisseur Giacomo Abbruzzese die Militär-Szenen sehr genau und vermeidet geschickt Heroik. Er hat sich in seinem packenden ersten Spielfilm für eine elegische Odyssee entschieden, auf der wir einen entwurzelten jungen Mann begleiten.

Sein Skript lässt Raum für Interpretation und vermeidet Fragen nach Schuld oder Sühne. Beweggründe bleiben teils mysteriös. Dafür wird man mit einigen mythischen, magischen Momenten belohnt. inklusive einer energetischen Choreographie in der Disco, die nach der Härte eine unerwartete Poesie entwickelt.

 

Talk to me (Australien, Regie: Danny & Michael Philippou)

Manchmal verspricht die Filmbeschreibung auf der Berlinale Webseite zu viel. Hier jedoch ist der Film weitaus besser als erhofft.

Die fast erwachsene Schülerin Mia gehört so gut wie zum Haushalt ihrer besten Schulfreundin Jade und wird auch von deren jungen Bruder Riley und der Mutter Sue geschätzt. Bei vielen anderen ist die herzensgute Mia eine Außenseiterin – seit dem (vermuteten) Suizid ihrer Mutter ist die Heranwachsende nicht nur vom eigenen Vater entfremdet und gilt den Mitschülern als wunderlich.

In der erweitertern Clique der Freunde gibt es einen bizarren Partytrend: Rituelle Kontaktaufnahme mit dem Totenreich, bei der man sich reihum filmt. Für eine gute Minute (mehr sei gefährlich!) ist man besessen, ein Toter spricht und agiert über den oder die Freiwillige außer Rand und Band.

Die Handy-Videos, die davon die Runde machen, halten die Freunde zunächst für einen Hoax.  Dabei sein auf so einer Party, das hat dann doch einen zu großen Reiz. Und: Es ist tatsächlich echt, aufregend – und bald kann keiner mehr davon genug bekommen. Bis jemand den Jüngsten der Runde an die Reihe lässt – mit katastrophalen Folgen.

© Matthew Thorne

Statt nur einem bloß unterhaltsamen Genre-Kracher bekommt der Zuschauer hier ein übernatürliches Jugenddrama serviert. Natürlich sind die mysteriösen übernatürlichen Ereignisse hier quasi der Motor des Filmes. Doch dies erstaunliche Erstlingswerk wartet auch mit plastischen Charakteren auf. Der sympathische Mikrokosmus den das Drehbuch aufbaut interessiert uns in der Tat statt wie anderswo bloße Folie für Expoitation zu sein.

Die Jump-Scares und Horrorelemente sind geschickt dosiert, sowie für das Genre mit ungewöhnlicher Zurückhaltung sehr effektiv dosiert.

Wer mag, kann hier sogar eine offensichtliche Analogie zu anderen Abhängigkeiten erkennen, für die gerade auch junge Menschen auf der Suche nach ihrem Platz im Leben empfänglich zu sein scheinen.

Für alle über 30: Die Zwillinge Danny und Michael Philippou wurden als “RackaRacka” auf Youtube weltberühmt mit abstrusen und teils gesperrten Horror-Videos. Wenn Soziale Medien zu solch einem Ergebniss befördern können, ist man geneigt zu sagen:  Weiter so. Diese Brüder haben womöglich ihre eigentliche Bestimmung gefunden.

 

Music (Deutschland/Frankreich/Serbien, Regie: Angela Schanelec)

Ich habe beim Film lange überlegt, was ich schreiben soll -und ob ich überhaupt etwas schreiben soll.

Strenge Szenensetzung. Kaum vorhandene Dialoge. Endlos gehaltene, statische Einstellungen, in denen minimal passiert. Gern auch in Totalen, und warum nicht aus 100 Metern und mehr Entfernung? Fans von James Benning kommen auf ihre Kosten.

Wenn es denn mal in die Halbnahe geht und Dramatis Personae so etwas wie interagieren, geht es häufig ins absurd Standbildhaftige, teils stilisiert eingefroren zu plakativen Enblemen.

Zunächst vertrauen wir noch, dass sich Details und Andeutungen fügen werden. Mit der Zeit gibt man frustriert auf, eben auch wegen der maximalen Spreizung der Zeit in diesem “Drama”. Wo anderswo irgendwann das Tempo variiert oder anzieht, bleibt die Regisseurin immerhin konsequent und fordert bis aufs Letzte maximale Duldsamkeit.

Diese, einen Ödipus-Bezug (wenn man es vorher gelesen hat) beinhaltende Zeitlupen-Saga ist kaum zu ergründen.

© faktura film / Shellac

Als während des Abspanns (ich hatte meinen Kopf in den Händen) rechts neben mir jemand einen lautstarken Disput mit Zuschauern aus der Reihe vor uns anzettelte, war das interessanter als die vorherigen 101 Minuten.

Das wohlwollendste, was ich schreiben könnte ist: undurchdringlich. Was ich eigentlich sagen möchte: Ärgerlich.

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