Berlinale 2023, Tag 7: Namenstag, voller Tag, Albtraumtag

20.000 especies de abejas | 20,000 Species of Bees (Spanien, Regie: Estibaliz Urresola Solaguren)

Nicht alles läuft glatt in dieser Familie, das erkennen wir schon im hektischen Alltag bevor es auf einen Kurzurlaub ins baskische Heimatland geht. Die Mutter ist Künstlerin und hofft auf eine finanziell wichtige Dozentenstelle an der Universität. Nebenher leichte Reibereien mit ihrem Partner, auch und immer wieder wegen ihres mittleren Kindes, Spitzname Cocó.

Das 8jährige Kind hadert mit dieser Namensgebung – seinen eigentlichen Namen Airto lehnt es wiederum rundum ab. Cocó besteht auf lange Haare und ist mit der aufgedrängten Kleidungswahl alles andere als zufrieden.

Sie reisen los, um neben dem Besuch der erweiterten Großfamilie einer Taufe beizuwohnen. In der Provinz sind die Kleidung und die Frisur von Coco nur einer der Reibungspunkte für Nachbarn und Verwandte.

Es bleibt zunächst im Unklaren, da geht es uns wie der Mutter welche noch nicht erkannt hat: das Kind sieht sich in einem anderen Geschlecht und hat noch keine Stimme gefunden, dies einzufordern.

Während der Woche, die dem sonntäglichen Fest vorausgeht, stürzt sich die Bildhauerin in der ehemaligen Werkstatt ihres Vaters in die Arbeit. Cocó hat Zeit, die Tante Lourdes in die Natur zu begleiten. Über deren Imkerei kommen die beiden ins Gespräch, tiefer als mit der Mutter in den letzten Jahren. Mit einem gleichaltrigen Mädchen taut das ansonsten verschlossene Kind dann noch mehr auf.

Und Coco findet einen neuen Namen für sich.

Am Tag der Taufe wird die Kleidungswahl dann nochmals zum Politikum, und die Dinge laufen aus der Bahn.

© Gariza Films, Inicia Films

Es geht ja doch: Anders als am letzten Samstag bei “Cidade Rabat” wirken Alltags-Situationen einer erzählten Woche vor einem Familienfest weder beliebig, noch sind sie erratisch montiert. Familien-Geplänkel ist dies meist nur vordergründig, wir hören Zwischentöne und loten Untiefen.

Es sind viele Kleinigkeiten, an denen sich in dieser einfühlsamen Geschichte die Sehnsucht des Kindes, des sich-anders-fühlens kristallisieren. Dazu nehmen sich Skript und Regie genau die Zeit, die es braucht. Wie auch die Tante, die irgendwann die Mutter von Coco/Airto drängt, den Tatsachen ins Auge zu sehen

Mit Feingefühl und leichter Hand inszeniert die Regisseurin und Autorin Estibaliz Urresola Solaguren und vermeidet jede Banalität. Die Mutter, so Tante Lourdes, habe die Zeichen zu lange übersehen

Die Akteure überzeugen durch die Bank und durch alle Altersklassen mit wohldosiertem, überzeugendem Spiel. Was sich bis hin zum Klimax des Filmes noch weiter steigert

 

Mutt (USA, Regie: Vuk Lungolov-Klotz

Aus dem griechischen stammend, fordert das klassische Drama Einheit von Raum, Zeit und Handlung. Das mit dem Raum wurde vor ein paar Tagen bei “Inside” maximal ausgenutzt. Hier nun ist es ein einziger Tag, der es schafft, alles rüber zu bringen.

Das kann ja ein Tag werden. Morgen soll Feña seinen Vater, den er Jahre lang nicht sah vom Flughafen abholen. Genau genommen war Feña seinerzeit noch eine sie. John, sein/ihr letzte/r Boyfriend vor seiner Umwandlung ist zudem auch wieder in der Stadt… ihm begegnet Feña in einer Bar…und kann es nicht lassen, doch herüber zu gehen. Auch wenn offenbar beidseitige Verletzungen noch tief sitzen, trinkt man, schlendert …es kommt zu mehr.

Nach rüdem Erwachen geht ab dem nächsten Morgen so einiges schief, eine zugefallene Tür, Stress am Bankschalter wegen abweichendem Geschlecht auf einem Scheck – und später hängt sich dann noch die 14jährige Schwester Zoé an Feñas nicht vorhandenen Rockzipfel. Zoé hat die Schule geschwänzt, um der vermissten Feña endlich einmal vorzuwerfen, wie sehr sie ihn vermisst – und dass sie sich im Stich gelassen fühlt mit der unerträglichen Mutter, vor der Feña irgendwann floh.

Doch nicht zur die Zuneigung der Geschwister, auch noch jemand anders wird Feña an diesem Tag Kraft geben – eine Person, die den Menschen jenseits des Geschlechts sieht.

© Quiltro LLC

Im Skript habe Autor und Regisseur Vuk Lungolov-Klotz viele gesammelte Zitate und Berichte von queeren und Transfreunden Freunden und Bekannten eingebaut. Dennoch vermeiden die realistsichen und intensiven Dialoge Klischees und Platitüden während die Handlung kurzweilig voran getrieben wird.

Und: Es geht hier weniger um Konfrontation, als um das noch nicht Angekommensein einer transformierten Person. Noch nicht geklärte Verletzungen und Anziehung.

Es sei ihm um das Einrahmen seiner Figuren gegangen, klassische New York Facetten standen hinten an, so der Regisseur. Daher habe er auch im 4:3 Format statt im heute favorisierten 16:9 Format gedreht. Übrigens von Kameramann Mathew Pathier exzellent geframed und inspiriert ausgeleuchtet.

Vuk Lungolov-Klotz darf stolz sein, das Ziel, die Situation und Gefühlswelt von Queer-Menschen im Umbruch auch für nicht-queere Zuschauer nachvollziehbar zu machen, erreicht zu haben. Er baue darauf, dass ab der jetzigen Generation Z das Thema Queerness endlich wirklich in der Gesellschaft den Außenseiter Status verliert.

 

 

Propriedade | Property (Brasilien, Regie: Daniel Bandeira)

Bei der kurzen Einführung vor dem Screening redet Regiseur Bandeira unvermittelt und schlagwortartig von “sinnloser Gewalt” “Unschuldigen Opfern”, von Folgen von Erlittenem. Bevor er noch mehr schwadroniert, verweist der Moderator auf das Q&A später und es geht los. Verspätet hatte das Screening sowieso.

Die wohlhabende Modedesignerin Teresa lebt, von einer Entführung traumatisiert, hermetisch abgeschlossen. Ich umtriebiger Mann Roberto plant für Beide, aus ihrem Kokon auszubrechen. Dafür hat er einen voll gepanzerten SUV besorgt, mit dem es auf ihr ländliches Ferienhaus gehen soll. Das abgelegene Anwesen umfasst eine weitläufige Farm, die seit Generationen von Arbeiter-Familien bestellt wird, die sich wie Leibeigene wähnen, doch bisher alles mitgemacht haben.

Was das Ehepaar nicht mitbekommt: Pläne, diesen Landwirtschafts-Betrieb zu schließen haben dort bereits die Runde gemacht und in der familiär eingeschworenen Belegschaft kocht der Zorn hoch. Angeblich, so der Vormann der Farm, seien nämlich alle auch noch verschuldet wegen ausstehender Abgaben! Neue Jobs nach Umbau zu einem Hotel können sie sich abschminken. Schon bevor Roberto und die trotz Panzerkarosse ängstliche Teresa anreisen, fließt auf der Farm bereits das erste Blut.

Als sich Roberto kurz nach ihrem nichtsahnen Eintreffen einem gewalttätigen und bewaffneten Mob gegenübersieht, flieht Tereza in den SUV und verriegelt ihn. Die schützende Hermetik wird zum Gefängnis.

© Vilarejo Filmes

In Filmen aus Argentinien und Brasilien werden immer wieder die Gated Communities gezeigt, das fatale soziale Ungleichgewicht zitiert. Natürlich liegt in diesem Film unter einer kaum vorhandenen Thriller-Oberfläche eine Allegorie auf die Altlasten einer Geselltschaft wie Brasilien. Mit allen Mitteln des Spannungskinos packt uns der Film, dessen Leistung es ist, eine Ambivalenz aufzubauen:

Zwar ist der Aufruhr als solcher verständlich, doch die Wahl der Mittel und die Gewalt eskalieren bis zum wirklich bitteren Ende – und es fällt uns schwerer Sympathien zu halten. Trotzdem allem vermeidet Regisseur Daniel Bandeira bloße unmenschliche Abziehbilder zu malen – auch wenn ihre Maßnahmen zunehmend gewissenloser werden.

 

Auf die Frage nach dem ausufernden Gewaltgebrauch des Filmes will Daniel Bandeira dies im Geiste von John Carpenter, Larry Cohen und (dem ebenfalls brasilianischen) Coffin Joe verstanden wissen. Kino hätte schon immer eine Faszination für Gewalt gehabt. Nun ja. Hauptdarstellerin Malu Galli will ihre Rolle und den Film verstanden wissen als ein Fanal für das historische Erbe Brasiliens.

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