Mal viver | Bad living (Portugal/Frankreich, Regie: João Canijo)
Das selbe Hotel wie gestern abend – wir nehmen diesmal vorrangig die Sicht auf die Betreiberinnen. Man fühlt sich natürlich, “Viver mal” gesehen habend, einigermaßen eingeführt. Dennoch erkennen wir auch hier erst nach und nach die Zusammenhänge, das Ausmaß einer potenziellen Tragödie.
Großmutter Sara hat das sagen, die Töchter Ángela, Piedade und Raquel schmeißen den Laden, mit einigem, über die Jahre eingeschliffenen Zwist und Hadern. Àngela in professioneller Resignation, Piedade zweite schlafwandlerisch-depressiv. Raquel die Einzige, die sich mit den Umständen einigermaßen abfindet – ein Quickie mit dem Stammgast, wieso nicht.
Dass es offenbar akute finanzielle Probleme gibt, erfahren wir erst spät – es ist auch bei diesen Vergleich das kleinste Problem. Denn nur selten hat die leutselig-flapsige Kommunikation bei der Arbeit oder in Tischgesprächen von einem mitfühlenden Umgang.
Die überraschende Rückkehr von Piedades erwachsener Tochter Salomé bringt allerdings die Oberfläche, langsam zum aufzubrechen. Die aus psychologischer Behandlung Entlassene ist nicht mehr Bereit, dieses Spiel mitzuspielen. Jahrelange Vernachlässigungen, Unvermögen an Mutterliebe wurden über die Generationen weiter gegeben.
Anders als “Mal viver” wird hier klassisch linear inszeniert. (Allenfalls die uns schon bekannten Gäste vom Vorabend spielen dramaturgisch verzahnt in das Geschehen)
Das macht diesen Film technisch vielleicht auf den ersten Blick etwas weniger kunstvoll. Doch João Canijo versteht es allerdings auch hier, die Innendynamik einer familiären Gruppe mit Sprengkraft auszustatten. Wie auch in “Mal viver” wird komplett auf Filmmusik verzichtet, somit auch jegliche emotionale Führung vermeidend.
Ein verzweifelter Schrei, der irgendwann in der Konsequenz heraus bricht, war in dieser Familie längst fällig gewesen.
Übrigens: Laut Regisseur Canijo wurden Skript und Charaktere bei den Proben zusammen mit allen Schauspielern entwickelt. Das Material und die dabei entwickelten Charaktere boten dann Material für gleich noch einen Film, “Viver mal”.
Experiment geglückt: Sowohl, dass dies Szenario tatsächlich für zweimal Spielfilmlänge trägt. Zum Anderen, diese beiden Filme direkt nacheinander gesehen zu haben. (Und, wie ich finde, in der “richtigen” Reihenfolge)
Femme (Vereintes Königreich, Regie: )
Interessant klang sie schon, die Kurzbeschreibung auf der Berlinale Webseite.
Jules ist ein Star in seiner Szene. Der junge schwule Mann ist Drag Performer und wird von Fans und Freunden gleichsam geliebt. Nach einem Gig führt ein vermuteter Augen-Flirt mit einem Burschen auf der anderen Straßenseite kurz darauf zu einem Hassverbrechen gegen ihn. Nach dieser Gewalttat zieht sich Jules in sein Schneckenhaus und verschließt sich vor der Welt und seinen besorgten Freunden.
Als Jules sich irgendwann endlich tastend in die Außenwelt traut – als safe space sozusagen in eine Schwulensauna – begegnet er dort dem Agressor aus der Tatnacht. Nach dem ersten Schock bemerkt er, dass dieser ihn nicht erkennt. Trotz Verängstigung handelt Jules eher instinktiv als logisch: Er initiert, dass der Bully ihm -im Schwulenmilieu nicht ungewöhnlich- direkte Avancen macht. Steigt sogar in das Auto des prolligen jungen Mannes und lässt sich später zu Spontan-Sex gebrauchen.
Jules’ Übeltäter ist also ein closet-gay. In der konventionellen Plot-Logik erwarten wir jetzt ein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel.
Doch bald fragen wir uns Mal um Mal, wohin Jules aberwitziges Unterfangen führen wird: Durch Outing ausgelebte Rachephantasie, Verarbeitungs-Melodram, Bekehrungs-Romanze? Denn dies lässt der Film interessant lange offen und das kluge Drehbuch offenbart erst nach und nach seine Nuancen.
Preston heißt der halbstark gekleidete Macho, nennt sich auf auf social media “Entrepreneur” – in der Wirklichkeit bedeutet das: Drogenhändler. Jules lässt sich auf eine aberwitzige, zunächst rein sexuelle Beziehung zu diesem BMW X3 fahrenden, extrovertierten ein.
Welche Vergeltungspläne Jules auch ausheckt: Sie scheitern ein ums andere Mal und irgendwann laufen die Beiden sogar der nichts ahnenenden Freundes-Gang Prestons in die Arme und das absurde Spiel weitet sich noch mehr aus.
Buch und Regie (beides ) sind gerade in ihrer Ambivalenz stark. So wie wir den sympathischen Jules in seinem Tun langsam immer weniger verstehen, so wird der zunächst primitiv und hassenswert scheinende Bully langsam von einer Hass-Figur zu einer echten Person. Beides nicht zuletzt der Verdienst der starken Hauptdarsteller Nathan Stewart-Jarrett und George MacKay.
In crispen Bildern wird nicht nur das Nachtleben sondern auch Jules’ Angst, Zerissenheit und Mut der Verzweiflung ausgeleuchtet. Und für die unbedingte Geradlinigkeit der Erzählung nimmt man ein paar Plot-Löcher in Kauf – was bis zum stimmig wirkenden Ende belohnt wird.