Berlinale 2024, Tag 2: Zeugnistag, Idealismus und Food Fight

Last Swim (Vereinigtes Königreich, Regie: Sasha Nathwani)

Block-gebuchter Tag in einem Kino. Schien eine gute Idee. Damit fällt die Raserei zwischen Spielstätten schonmal weg. Da alle drei Filme jedoch sehr interessante (aber auch lange) Q&As hatten, konnte ich mich jeweils im Anschluss fast direkt wieder anstellen. Und Bewegung gab es ansonsten auch nicht viel – Notiz an mich selbst: City Kino Wedding hat so gut wie keine Beinfreiheit…

Die iranisch-stämmige Schulabsolventin Ziba ist die Hellste ihrer eingeschworenen Freundesclique. Von jenen Vieren (der praktische Shea, die leichtfüßige Tara und der frohgemute Merf) ist sie die einzige, die bei ihrem Abschlusszeugnis weiß, dass es brillant wird – einen Studienplatz hat die astrophysisch interessierte Ziba auch schon.

Dennoch erkennen wir schon bei Beginn dieses Zeugnistages, dass ihr etwas auf der Seele liegt. Außer ihrer sorgenden Mutter Mona weiß keiner davon – und Mona nicht einmal, dass Ziba aufgrund einer Diagnose und dringenden Behandlung für diesen besonderen Tag ein ultimatives Ende plant.

So verbringt Zibas Viererbande nach Schulschluss einen vermeintlich sorgenfreien Tag zu Beginn eines Sommers, der die jungen Leute ins Leben entlässt. Shea’s Freund, der Jungfußballer Malcolm stößt noch überraschend zur Gruppe.  Ziba, laut Bekunden der Freunde noch nie verliebt, empfindet Malcolm zunächst als Fremdkörper im von ihr perfekt durchgeplanten Tag. Doch langsam beginnt es zu knistern zwischen den Beiden.

© Caviar, Pablo & Zeus

Schlusspunkt soll ein historisches Meteoritenschauer-Ereignis im Park werden, doch man findet kein Ende und will noch in einen Club. Vielleicht will Ziba auch ihren Entschluss aufschieben?

Der Film punktet an allen Stellen. Tightes Skript, glaubwürdiger Dialoge, ein durchweg überzeugender charismatischer Cast – über die wenigen Meckerpunkte (hier mal Wechsel der Sichtachse, dort eine unmotivierte Kamerafahrt oder Handkamera) kann man getrost hinweg sehen.

Die Hauptdarsteller hatten nur 4 Tage Probenzeit (immerhin), in denen sie allerdings allseits verblüfft waren, wie schnell sie einen Draht zueinander fanden.

Die Dialoge wirken völlig ungekünstelt, obwohl im Q&A klar wurde, das gerade mal 15% improvisiert wurde. Lydia Fleming (Tara) sagte dann auch, als sie bestimmte Dialogszenen gelesen hätte, war ihr klar, dass Regisseur Sasha Nathwani und seine Co-Autorin Kinder im gleichen Alter gehabt haben. So redeten und fühlten Teenager.

Nathwani im Q&A weiter, ging es darum einen vibrierend aufregenden Sommertag zu zeigen – eine Seite die nach seinem Empfinden in den Darstellungen seiner Stadt London zu kurz käme.

 

Redaktsiya | The Editorial Office (Ukraine/Deutschland/Slowakei/Tschechien, Regie: Roman Bondarchuck)

Vorab: Dieser Film wurde Jahre vor der russischen 2022er-Invasion geschrieben und begonnen. Die Produktion wurden erst spät in 2023 abgeschlossen. Für einige Szenen musste gegen Ende auf Tschechien und die Slowakei ausgewichen werden.  

Jura ist frustriert. Der junge Ukrainer mit Reporter Ambitionen knipst zu Beginn des Films mit einem väterlichen Freund und alt gedienten Journalisten unter einem Vorwand Brandstifter in den Wäldern am Rande von Cherson. Wir sind laut Einblendung 6 Monate vor der 2022er Invasion.

Für das Material interessiert sich dann allerdings kaum jemand. Die einst angesehene Zeitung ist quasi in Auflösung, der verbliebene Chefredakteur ist kurz davor das Handtuch zu schmeißen. Es regiert quasi ein korrupter Kapitalismus kurz vor dem Endstadium. Der Bürgermeister zum Beispiel liegt seit Monaten im Koma, seine Partei plant dennoch schon seine Wiederwahl.

Zudem nervt Jura der Verehrer seiner verwitweten Mutter, ebenfalls ein dubioser Unternehmer. Die Mutter kann er bald nicht mehr davon abhalten, sich mit Crypto-Währung eines durchreisenden amerikanischen Finanzguru zu beschäftigen. Doch Jura trägt halt nichts zum Auskommen bei – und so sieht er sich bald genötigt, für ein windiges aber sehr erfolgreiches lokales Revolverblatt zu hospitieren. Sonst findet er für seine Scoops nämlich keine Abnehmer, die Wahrheit stört lokale Politiker und Geschäftemacher nur beim Geldverdienen.

“Redaktsiya” ist weniger ein “Die Unbestechlichen”-Wiedergänger als eine freimütig und verwegen in die Farce driftende Satire. Wenn man (Berlinale Minutenschlaf) auch nur kurz weg driftet steigt man bald schon nicht mehr durch das Spinnennetz an Machenschaften und Charakteren durch.

© Moon Man filmproduction

Im Q&A kam irgendwann die drängende Frage, was denn ein so sarkastischer Film über die realpolitischen Aussichten der Ukraine aussage – ob es nicht geradezu die Unfähigkeit zur Autonomie beweise. Regisseur Roman Bondarchuk gab die beste aller möglichen Antworten:

Dass ein Film wie Redaktsiya produziert und gezeigt werden könne, zeuge von einer freiheitlichen Gesellschaft – und Ziel einer intakten Gesellschaft sei es, dass sie stets bestrebe besser zu werden, wozu auch das Zeigen von Missständen gehöre.

Die ersten Testvorführungen in der Heimat seien ein voller Erfolg gewesen… um den eigentlich vom Dokumentarfilm kommenden Bondarchuk stritten sich zum ersten Mal in seiner Karriere die Filmverleiher. Für ihn, gab er schmunzelnd zu, eine völlig neue Erfahrung.

Allerdings sei das Bild Chersons und der umliegenden Steppenlandschaft, die hier gezeigt werden mittlerweile Geschichte, so die betretene Fußnote des Teams: Nach der russischen Einnahme der Stadt, der Rückeroberung und dem folgenden Bombardement würde es bestenfalls Jahrzehnte dauern um so auszusehen wie vorher. Traurige Fußnote: Der Editor des Filmes ist kurz nach Wiedereroberung Chersons bei Gefechten gefallen.

 

La Cocina (Mexiko/USA, Regie: Alonso Ruizpalacios)

Wir beginnen mit der blutjungen Estela, just (und wohl ohne Papiere) von Mexiko nach New York gekommen ist, ihren ersten Arbeitstag in einem großen Touristen-Restaurant am Times Square. Englisch nicht wirklich sprechend und ohne Vorstellungstermin bekommt Estela jedoch gewitzt den Einsteigerjob in der Küchenbrigade.

Sie findet sich bald in einem an ein Bienenhaus erinnernden Pandämonium wieder. Pedro, ein entfernter Verwandter und hier exzentrisch-temperamentvoller Sektions-Koch, erkennt sie zunächst nicht. Sie wird der seiner Station.

Überhaupt geht es hier hoch, laut und deftig her. Das Personal schenkt sich im Alltags-Stress nichts, ist aber insgeheim eine eingeschworene Truppe. Alltags-Rassismus und unangemessener Sexismus (der Film verortet sich in den 90ern, doch laut Regisseur sei das nach wie vor so) obendrauf.

Und was für ein Tag es wird: In der Kasse des Vorabends fehlen 800 Dollar, die Restaurantleitung verhört das Personal. Alte Animositäten zwischen den Stations-Köchen, äh, köcheln wieder hoch bis zu Handgreiflichkeiten. Eine Getränkespender überflutet irgendwann die Küche. Pedros Flamme, Kellnerin Julia, hat (in der Mittagspause!) eine Abtreibung geplant und der wahnwitzige Verliebte versucht wie ein Wanderprediger sie davon abzuhalten.

Wer als Fan der Serie “The Bear” in diesem Film geht, wird vieles wieder erkennen. Wenn auch wilder, disparater und harscher. ‘La Cocina’ ist dann auch in neutralisierendem, doch differenziertem schwarz-weiß gehalten, das Bildformat öffnet sich nur ein paar Mal von einschränkendem 4:3 auf 1:1,85.

Das komplexe Skript und die rasante Inszenierung sind nur zu loben. Diese Art von Klassen-Kampf, die sich hier abspielt, tritt nüchtern und beständig zu Tage, sozusagen systemimmanent: Alle wissen, dass sie ersetzbar sind – zumal meist ohne Papiere oder Arbeitserlaubnis. Und kämpfen mit Klauen und Zähnen mit und für ihre Jobs. Am Klimax fällt irgendwann der unfassliche Satz “…we feed you – what the hell do you want more? What is it that you want!?”

 

Anthony Bourdain stellte schon vor mehr als zwanzig Jahren in seinem epochemachenden Buch “Kitchen Confidential” fest: Wer ins “back-of-house”, den “underbelly” (nicht nur) von US-Restaurants schaut, findet dort eine bunt gewürfelte Truppe aus aller Herren Länder. Die tapfer und unentwegt, er nutzte das Bild Piratencrew, bis zur Erschöpfung arbeitet und alles schafft, was ansteht.

© Juan Pablo Ramírez / Filmadora

Diesen Menschen, die hunderte von Stunden auf engstem Raum und unter großer Belastung zusammen arbeiten – dann aber doch nur wenig wirklich voneinander wissen, sich vielleicht gar nicht wirklich kennen wollte Regisseur und Autor Alonso Ruizpalacios ein kleines Denkmal setzen – und eben diesen Widerspruch heraus arbeiten.

Die Darsteller wurden in der Tat drei Wochen vor Drehbeginn versammelt, um zu lernen als Team zusammen zu arbeiten. Nicht nur die ballett-gleichen Anforderungen auf engstem Raum zu hantieren, sondern auch den Eindruck einer Crew zu etablieren. Prämisse sei gewesen, arbeitet zusammen und macht keine schauspielerischen Angebote. Etwas, das die gesamte Riege (circa 20 Personen im Q&A) als überaus hilfreich heraus stellte.

 

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