Berlinale 2024, Tag 3: Frontgespräche, Flucht und ein Neubau

Intercepted (Kanada/Frankreich/Ukraine, Regie: Oksana Karpovych)

Morgens Zweifel an der eigenen Entschlossenheit: So einen Film gleich am Morgen? Filmische Zeugnisse wie “Intercepted” werden jedoch, so wird mir sehr bald klar, nicht genug gesehen. Jubelten gestern nach dem Screening von “Redaktsija” noch ukrainische ZuschauerInnen lautstark dem Film und seinem Team zu, so ist man heute beim Abspann allerdings eher betroffen.

Ukrainische Geheimdienste belauschten seit Beginn des Ukraine-Krieges die Telefongespräche russischer Soldaten mit deren russischen Angehörigen. Oksana Karpovych arbeitete sich durch insgesamt 30 Stunden Material, welches übrigens sowohl auf youtube als auch auf open source Webseiten veröffentlich liegt.

In ihrem sehenswerten und zugleich verstörenden Film montiert sie nun solche Front-Gespräche in die Heimat mit Bildern aus den Kriegsgebieten. Wohlgemerkt eher statisch und gänzlich ohne Kampfhandlungen. Wir sehen “nur” das Ergebnis. Verkohlte, eingestürzte Wohnblocks und Eigenheime. Ruinierte und auch geplünderte Wohnungen, verlassene Schulen, Arbeitsplätze, zerstörte Brücken und Straßen, aufgegebene Kampffahrzeuge. Sie alle sind stille Zeugen.

© Christopher Nunn

Hören wir von den russischen Soldaten zunächst noch Erstaunen und Neid über den Wohlstand, vermeintlichen Siegesstolz und Chauvinismus über Zweifel an Strategie und Führung – bis hin zu Beschreibungen von Gräueltaten (die unerträglichsten Passagen hat uns die Regisseurin, so räumt sie später ein, hätte sie dem Zuschauer erspart.

Immer wieder sind die Zwiegespräche durchsetzt mit Propaganda-gestützte Narrativen der russischen Doktrin. In all den von ihr gehörten 930 Telefongesprächen, sei nicht einmal Empathie oder so etwas wie Mitgefühl zu Tage getreten. Verstörender Weise hätten die Mütter und Ehefrauen tendenziell noch mehr Gefühlskälte und Härte zu Tage treten lassen als die  Soldaten selbst.

Als im Q&A jemand Andeutungen auf potenzielle Selektion und Validität des Materials verlautete, antwortete Karpovych: Sie spräche fließend russisch und hätte eine Vielzahl von Dialekten aus den entlegensten Landstrichen gehört – wenn das Audiomaterial eine Fabrikation der ukrainischen Sicherheitsdienste wäre, so würde sie ihnen einen Preis verleihen.

Ich muss einem der Fragesteller im Q&A zustimmen, die Montage des Materials ist fast schon behutsam zu nennen. Vielleicht auch nur so einigermaßen zu ertragen. In der Tat, so Oksana Karpovych, wäre ihre Editorin auch eine wichtige emotionale Stütze gewesen.

 

Les Paradis de Diane | Paradises of Diane (Schweiz, Regie: Carmen Jaquier, Jan Gassmann)

Die sinnliche Zweisamkeit der ersten Filmminuten täuscht. Zärtlichkeiten zwischen der hochschwangeren Diane und ihrem Partner Martin. Bald darauf, für uns wie ihr Umfeld unvermittelt, ist Diane ist auf der Flucht. Wenige Stunden nach der Geburt verlässt sie in Nacht und Nebel die Entbindungsstation, den schreienden Säugling zurück lassend.

Nur mit der Kleidung am Leibe und ihrer Brieftasche fährt Diane scheinbar ziel-und endlos mit Reisebussen umher, mal träumend mal wachend. Ihr Smartphone hat sie buchstäblich begraben. Wohin jetzt fragt sie den spanischen Busfahrer an der nächtlichen Endstation. “A casa” antwortet der, nach Haus.

Diane ist in Benidorm gelandet, einem Dorado des Pauschaltourismus. Dieser Moloch von Stadt (auch Manhattan der Costa Blanca genannt) ist, so hätte es meine Mutter gesagt, vor Hässlichkeit schön. Aber zu ihrem Vorteil anonymisierend genug.

© 2:1 Film

In zumeist subjektiv-nervösen und zuteils faszinierenden Einstellungen verfolgen wir das ziellose Suchen einer scheinbaren Schlafwandlerin. Diane funktioniert nur nach äußerem Anschein. Mit der Zufallsbekanntschaft der betagten Auswanderin Rose, findet sie jemanden der sie irgendwie versteht, zumindest akzeptiert und nicht viele Fragen stellt.

Wir erfahren so gut wie nichts um Hintergründe oder vermeintliche Ursachen. Autorin und Co-Regisseurin Carmen Jaquier geht es mit gemeinsam mit Jan Gassmann nicht um ein wieso oder weshalb.

Sie hätten davon abgesehen, so die Beiden im anschließenden Q&A, dies Syndrom zu labeln, das manche post-partem Depression, andere Baby Blues nennen – es sei schlichtweg unzureichend erforscht und verstanden.

Ausgangspunkt, so Carmen Jaquier, sei das Bekenntnis einer guten Freundin gewesen. Diese war, so gestand sie ihr, bei ihrer Mutterschaft beinah geflüchtet – und nur ständige Anwesenheit ihrer Familie hätten dies unmöglich gemacht.

Letzte Einlassung der Regisseure: Wäre es ein Film in umgekehrten Rollen gewesen, Mann flieht Vaterschaft, wäre es auch heute noch eine ganz andere Wahrnehmung.

 

Faruk (Deutschland/Türkei /Frankreich, Regie: Aslı Özge)

Von “Diane” noch etwas unterwältigt, ertappte ich mich zu hoffen, es ginge danach Heim. Ehrlich gesagt, zweifelte ich beim Blick auf mein Tagesprogramm an diesem meinem Spätfilm. Völlig unbegründet.

Der über 90 Jährige Faruk ist Bewohner und Teileigentümer eines kleinen Istanbuler Wohnblocks. Nun soll das Gebäude abgerissen werden und alsbald erdbebensicher neugebaut werden.

Faruk, seit vielen Jahren Witwer ist alles andere als einsam und nicht nur mit seinem ebenfalls betagten Bruder und seiner geschäftigen Tochter, der Regisseurin Aslı verbandelt. Seine vier Wände halten für ihn viele Erinnerungen. Es ist doch alles gut so. Ob der Neubau wirklich genau so gut, die Zusagen der Baufirma verlässlich sind – ob er den Wiedereinzug noch erleben wird? Für Faruk sind die anderen, befreundeten Eigentümer zu voreilig.

© Emre Erkmen

Dem für sein Alter noch erstaunlich fitten Greis kann man nämlich kaum etwas vormachen. Ganz schön obenauf, begleiten wir ihn durch Planungsphase, bei nachdenklichen Gesprächen mit Freunden und Nachbarn, bei ärztlichen Untersuchungen als auch im Zwiegespräch mit seiner Tochter. Deren Filmprojekt steckt nämlich obendrein während der Schlussphase in finanziellem Engpass.

Film im Film, denkt man zunächst, sieht Team und Kamera. Später wird die Illusion nur noch wenige Male unterbrochen. Regisseurin Aslı Özge hat hier schlichtweg so etwas wie eine dokumentarische Fiktion geschaffen, die einen mit unerwartet mit gewissem Charme einnimmt.

Zum einen verewigt Özge die bemerkenswerte Person ihres Vaters, zum anderen behandelt sie die Geschäftemacherei durch nach den Erdbeben der letzten Jahre aufgelegten Regierungsfonds.

Das Projekt startete vor 7 Jahren und dass ihr Vater Faruk durch den Dreh vitalisiert wurde, war ein willkommener Nebeneffekt, so die Regisseurin. Sie “Papa, wollen wir spazieren gehen”, er “weiß nicht”, sie “wir werden dabei drehen”, er “wann geht’s los?”

Wer von uns daran denkt, macht beizeiten Fotos, vielleicht auch Videos seiner Eltern oder Großeltern wenn sie in die Jahre kommen – fast nie einen Spielfilm. Aslı Özge lässt uns quasi in ein lebendes Familienalbum schauen.

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