Berlinale 2024, Tag 4: Österreichische Niederungen, französische Wirren – und eine irre Invasion

Andrea lässt sich scheiden (Österreich, Regie: Josef Hader)

Mit dem Filmland Österreich (oder aber der Berlinale Kuratierung) habe ich beste Erfahrungen. Und wo ich seinerzeit seine “Wilde Maus” erst einiges später zu sehen bekam, musste ich den Zweitfilm des Kabarettisten Josef Hader unbedingt im Festival sehen.

Kaum noch etwas hält die desillusionierte Provinz-Polizistin Andrea in ihrem Dorf. Wenn auch Streifenkollege Georg sympathisch und der alternde Vater langsam unpässlich ist – die Dorfgemeinschaft ist vielleicht nicht ohne Grund freizeitlich sehr dem Alkohol zugetan. Und am Alkoholismus ihres Mannes scheiterte denn auch Andreas Ehe, man lebt seit Monaten getrennt und sieht sich erstmals auf einer Geburtstagsfeier im Dorfgasthof.

“Die Frauen ziehen weg und die Männer werden wunderlich”, so fasst es Kollgege Georg treffend. Denn Andrea hat einen Kripo-Job in der niederösterreichen Landeshauptstadt Sankt Pölten in Aussicht.

Ausgerechnet die pflichtbewusste Andrea überfährt in einem Moment der Unachtsamkeit nächtens ausgerechnet ihren betrunkenen Ex auf dunkler Landstraße. Ohne Zeugen, begeht sie im Affekt Fahrerflucht.

Am Tatort hat dann der in die Jahre gekommenen Lehrer Leitner das Pech mit seinem Auto als zweiter die Leiche zu überfahren. Der harmlos gutmütige Leitner hatte als trockener Alkoholiker zwar 0,0 Promille – doch für Dorfschaft und Polizei ist der Fall klar. Leitner gibt sich in sein Schicksal.

© wega film

Von dieser Ungerechtigkeit obendrein erschüttert, sieht sich Andrea bald ein makabres Spiel treibend: Ihr Unfallauto wird insgeheim repariert und in ihren moralischen Bedenken verschafft sie Lehrer Leitner einen Anwalt und rechtliche Tips. Dieser Hülle von Mann, wohl schon Jahre nach einem burnout, ist die Güte der Frau, die er vermeintlich zur Witwe gemacht hat höchst unangenehm.

Verantwortung und Idealismus sind wohl das Hauptthemen, die Autor und Regisseur umgetrieben haben. Klassische Schuld-und-Sühne Klischees vermeidend, zeigt er Charaktere, die sich entweder in provinzieller Enge eingerichtet haben – oder aus vorbestimmenten Entwürfen auszubrechen versuchen.

Ein wirklich feines Skript hat Josef Hader hier wiederum verfasst. Keine seiner Figuren gibt er der Lächerlichkeit preis, obwohl Schmäh und Humor nicht zu kurz kommen.

Sehr langer und verdienter Auftrittsapplaus im Q&A für Josef Hader (im Film in der Rolle des Lehreres). Das Interview gestaltet sich dann erwartet wortgewitzt und mit charmanter Ironie.

Mit diesem Religionslehrer wollte Hader eine Generation zeigen, die in den 1970ern idealistisch in den Beruf ging. Einen Frühling nicht nur in der katholischen Kirche vermutetend – um dann an wieder einsetzender Dogmatisierung und Engstirnigkeit zu verzweifeln.

Es sei halt ganz andere Art von Scheidung, als der Titel es vermuten macht. Welcher, so Josef Hader, bewusster Etikettenschwindel sei- und quasi seine Schlusspointe für nach dem Film.

 

Les gens d’à côté | My New Friends (Frankreich, Regie: André Téchiné)

Wie der Zufall es wollte…schon wieder ist eine Polizistin die Hauptfigur, wieder das Dilemma, das richtige zu tun.

Lucie, nicht mehr ganz junge Polizeibeamtin, will zurück in den Dienst. Nach dem Freitod ihres Partners Slimane, welcher ebenfalls im Dienst stand, war sie über ein Jahr krankheitlich freigestellt. Die Behandlung wäre erfolgreich so Lucie trotzig zum Vorgesetzten, die Medikation runtergefahren. Ab und an erscheint ihr Slimane noch im Traum.

Kurze Zeit zurück im Dienst, macht Lucie Bekanntschaft mit Julia. Die einiges jüngere Frau ist mit ihrer Familie vor kurzem nebenan eingezogen und die beiden werden Freunde. Bald nachdem sie Yann kennen lernt, Julias Partner und Kindsvater, entdeckt Lucie das dieser vorbestrafter Anti-Polizei-Aktivist ist, der in seinen Kadern auch vor Gewalt nicht zurück schreckt.

© Roger Arpajou

Sie mag Julie und Kind zu sehr, um den Kontakt abzubrechen und behält ihren Beruf geheim. Ihr spätes “outing” gegenüber Yann lässt diesen zunächst mit ihr brechen. Yanns Verwicklungen in einen geplanten Anschlag bringen nicht lang danach auch Lucie in riskante Verstrickung. Was soll sie aufs Spiel setzen: Karriere oder Freundschaft?

Wenn es eine Stärke gibt, wie im Film so im Leben, so ist es der anderen Seite zuzuhören, ihre Position einzunehem. So Isabelle Huppert (Lucie) später im Q&A.

Schnittführung und zeitweilig unsinniger Wackel-Handkamera-Einsatz wirken nicht immer stimmig. Dafür glänzt Téchinés spätes Werk mit Inszenierung und Schauspieler-Führung, mit nachvollziebaren Figuren und guten Fragen.

Ob sich ihre Einstellung zur Polizei durch den Film geändert habe, wurde Isabelle Huppert zum Schluss gefragt. Nun ja, entgegnete sie: Der Film ende ja mit einem Fragezeichen – und das sei fast immer besser als ein Ausrufezeichen.

 

L’ Empire | The Empire (Frankreich/Italien/Deutschland/Belgien/Portugal, Regie: Bruno Dumont)

Manchmal ist es besser, wenn man nicht bekommt was man erwartet. Ein Spektakel der besonderen Art hatte ich ja erwartet – doch irgendwann vermutete ich, dass mir die Adjektive ausgehen würden.

In diesem Fischerdorf an der französischen Atlantikküste geht es nicht mit rechten Dingen zu, so erkennen wir nach wenigen Minuten. So mancher der Einwohner wechselt im Geplauder auf der Straße den Tonfall und dann drehen sich die Dialoge um dunkle Mächte, bedrohliche Allianzen, eine kommende Flotte. Nicht von diesem Stern.

Ein Fischer spricht nun mal nicht eben drei Oktaven tiefer – und Lichtschwerter sind in Nordfrankreich ebenfalls nicht gebräuchlich. Außerirdische Mächte haben also selektiv von Einheimischen Besitz ergriffen, um auf der Erde eine ultimative Schlacht auszutragen. Bauern, Dorfschönheiten, ein Fremdenführer, die Bürgermeisterin – jeder könnte es sein.

Wer hier hofft, dass die Dorf-Normalos das doch bald raffen und konventionell-actionreich bekämpfen werden, der ist im falschen Film. Eine ganze Zeit lang ist man noch versucht, mit den Zusammenhängen und Parolen der Protagonisten und ihren Parolen mitzuhalten. Immer wieder wird Gefolgschaft angemahnt, zur Wachsamkeit aufgerufen, die Tücke des Feindes beschworen, Treue gelobt et cetera pp.

© Tessalit Productions

Man beginnt, das Ganze nicht mehr ganz ernst zu nehmen (wenn man es denn je getan hat) und die Absurdität zu genießen. Um sich auf quasi vor die Stirn zu schlagen: Man fällt hier gerade auf eine lustvolle Luxus-Persiflage von Epen wie Game of Thrones, Wächter des Tages, Dune, Underworld herein.

Denn, wohlgemerkt: ‘L’empire’ ist keine billige Parodie, die Schauwerte lassen sich durchaus sehen: an Kathedralen gemahnende Mega-Raumschiffe, die im Inneren an europäische Paläste (inklusive Parks!) erinnern. Später sieht es so aus, als sei ganz Versailles an der Küste gelandet.

Was Regisseur und Autor Bruno Dumont hier zusammengeschnürt hat, daraus werden anderorts ganze Staffeln von Serien oder Filmreihen gedrechselt. Und entsprechende Werke gibt es ja -vorsichtig gesprochen- zu Haufe. Der ganze sich anbahnende Endkampf kumuliert auf die banale Proklamation, wo das Gute nicht getan wird, setzt sich das Böse durch – und die Menschen trügen Anlagen für Beides in sich.

Die Komik kommt hier über die unentwegt und planvoll Sinn behauptete Ernsthaftigkeit, mit der die aberwitzige Handlung durchgezogen wird – in der Kulisse eines französischen Kaffs. Einziger klassischer comic-relief ist die ländliche Kripo deren beide Beamte bizarr verhaltensauffällig dem Begriff unfähig ein neues Level verschaffen.

Michael Haneke sagte dereinst zur voll durchgezogenen Drastik und Härte seines Films “Funny Games” sinngemäß: “Wer den ganzen Film durchhält, der hat es wohl nötig gehabt.”

Man könnte soweit gehen zu sagen, dass Bruno Dumont uns hier trollt. Das jedoch überaus unterhaltsam.

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