Berlinale 2024, Tag 5: Die Kunst des Loslassens, Kurzgesehenes – und Szenen zweier Ehen

Arcadia (Australien, Regie: Yorgos Zois)

Ein Instinkt-Ticket sagen wir mal; man muss sich ja eigene Filmerfahrungen mit den Kurzbeschreibungen der Berlinale Webseite interpolieren.

Wir schrecken hoch mit Katerina, die auf dem Rücksitz erwacht, während ihr Mann Yann in die griechische Küstenprovinz fährt. Bald sieht man beide einen Leichnam identifizieren. Es fällt kein Wort, erschütterte Trauer bei Beiden. Informationen über den Unfallhergang – im Auto sei ein Beifahrer gewesen.

Bald darauf folgt Katerina ihrem Mann Yannis beim Besichtigen eines Ferien-Bungalows, in dem, so erfährt er, die verunglückte Angehörige schon einige Male mit einem Lover abgestiegen war. Als Katerina eine Vase umstößt, die kurz darauf wieder unzerbrochen dasteht, erfahren wir bald: Sie ist gar nicht wirklich da, Katerina ist ein Wiedergänger. Wer jetzt “spoiler” schreit, verkennt den Ansatz dieses fesselnd nuancenreichen Dramas.

Katerina, so erkennen wir und sie bald, ist nicht die Einzige: So mancher selbst in diesem kleinen Dorf, ob Barfrau, Fischer, die Bungalow Vermieterin trägt einen solchen Schatten mit sich – Mancher seit Jahrzehnten.

© Foss Production, Homemade Films, Red Carpet

Diese Schattenwesen tauschen ihre Geschichten aus, wollen sie doch endlich hier weg: Katerina erkennt bald: Nicht sie hängen an den Trauernden, sonden deren Unwillen, die Toten los zu lassen ist es, der die Geister quasi zum Wandern auf auf der Erde verdammt.

Unsichtbare Wesen sind ein Topos, den die Filmgeschichte auch abseits von Gruselgeschichten (wie Carnival of Souls oder der Serie Der Spuk von Bly Manor) kennt: Wir erinnern uns an Yella,  Sixth Sense, Der Himmel über Berlin und das leider vergessene Hinter dem Horizont (mit dem seligen Robin Williams). Yorgos Zois’ Variante dieser Idee kommt empfindsam, fast unsentimental, doch mit umso mehr psychologischer Tiefe daher.

Die Schuldverwicklungen der vormaligen Eheleute sind der klassischen griechischen Tragödie würdig. Wie hier nach und nach, die tragischen Zusammenhänge entwickelt ist – bei aller Elegie- einnehmend anzusehen.

 

Berlinale Shorts

Die ersten beiden Filme ließen mich an meiner Ticketbuchung zweifeln. Film 3 und 4 rissen es dann doch noch raus. Ungünstigerweise wurden die Filmemacher nach jedem einzelnen Film auf die Bühne gebeten, was nicht immer sachdienliche Erkenntnisse brachte. Sondern Zeitdruck für meinen Abendfilm.

Kawauso (Japan, Regie: Akihito Izuhara) setzte dem ausgestorbenen japanischen Fischotter in einem entrückten Animationsfilm ein Zeichen – indem es sein Aussterben in überhöhter Art mit Umweltzerstörung in Verbindung setzte.

The moon also rises (Frankreich, Regie: Yuyan Wang) Eine spröde Fantasie über die persönlichen Vorbereitungen eines älteren Ehepaars zum Launch eines künstlichen Mondes.

Ungewollte Verwandschaft (Deutschland, Regie: Pavel Mozhar) in dem der gebürtig weißrussische Berliner Regisseur dokumentarisch zu verarbeiten versucht, aus einem Land zu stammen dass im derzeitigen Ukraine-Krieg zum Mittäter wurde.

In Sandkasten-Anordnungen und abstrakt nachgestellten Szenen werden Aussagen von Augenzeugen aufbereitet. Es ließ einen nicht kalt: die Taten, als auch das persönliche Dilemma des Filmemachers.

© Philip Ullman

Preoperational Model (Niederlande, Regie: Philip Ullman) faszinierte dann noch einmal mit hyperrealistischen, bizarren Animationen, in denen Fantasiewesen kindliche Entwicklunsphasen darstellten.

 

Sex (Norwegen, Regie: Dag Johan Haugerud)

Die Kurzbeschreibung auf der Berlinale Webseite und der Trailer ließen der Fantasie freien Lauf: Brokeback Mountain über den Dächern? Weit gefehlt.

Zwei Schornsteinfeger-Kollegen am Mittagstisch. Wenn einer auch dem anderen vorgesetzt, schätzen und vertrauen sie sich seit langer Zeit. Und so offenbart der Eine, dass er wiederkehrende Träume hat, in denen er von David Bowie begehrt wird – und die ihn insgeheim an seiner (nicht nur) sexuellen Identität zweifeln lassen.

Man hört sich zu, lässt sich Zeit, worauf der Andere dann freimütig offenbart: So seltsam sei das nicht, er hätte gestern der Avance eines männlichen Kunden nachgeben – und spontan Sex mit ihm gehabt. Es sei großartig gewesen…aber schwul? Nein, das könne er für sich verneinen.

In den nächsten Tagen begleiten wir die Männer im Alltag mit ihren Familien, im Zwiegespräch mit ihren Ehepartnerinnen. Soviel vorab: die Ehrlichkeit über den Seitensprung hat nicht die erhoffte Wirkung – setzt vielmehr eine Kettenreaktion von Gedankengängen, von wohl notwendigen Fragen zu Vertrautheit und Vertrauen, Intimität und Verlangen in Gang.

Wie auch bei unserem lediglichen “Träumer” – der er bei seine Ehefrau schon eher auf Empathie, Neugier und partnerschaftliches Verständnis stößt.

Der dialogstarke und menschliche Film des Regisseurs und Autors Dan Johann Haugerud verzichtet von vorne bis hinten auf billige Pointen und glänzt mit einer ganz eigenen Form von Humor.

Filmtechnisch nüchtern, doch sehr gekonnt in Szene gesetzt brillieren hier Skript und Hauptdarsteller. In zum Teil endlosen Takes erleben wir menschlich nachvollziehbar dargestellt die vielleicht besten Dialoge seit langer, langer Zeit zum Thema Freundschaft, Vertrautheit, Begehren, Wahrnehmung.

Die menschliche Wärme die der Film ausstrahlt, bis zum ambivalenten doch ergreifenden Ende, möchten einen – wie sprach’s Jack Nicholson in Besser Geht’s Nicht- ein besserer Mensch sein lassen.

Nachsatz: Dag Johann Haugerud versteht den Film als ersten Teil einer Trilogie “Sex-Dreams-Love”. Ist hier ein norwegischer Ingmar Bergman am Horizont?

 

 

 

 

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