Berlinale 2024, Tag 6: Unhappy Hippo, Heilige Einfalt – und Selbsttherapie

Pepe (Dominikanische Republik/Namibia/Deutschland/Frankreich, Regie: Nelson Carlos De Los Santos Arias)

Nicht unbedingt eine persönliche “Gurke” -doch etwas, das man sich wohl höchstens auf der Berlinale anschaut.

Das ursprünglich ausschließlich in Afrika beheimatete Flusspferd ist hier unser Erzähler. Mit abgrundtief gluggernder Stimme wundert es sich hier als Off-Erzähler wie es auf einem anderen Kontinent aufgewacht ist.

Zu den Exzessen des kolumbianischen Drogenbarons Pablo Escobars gehörte in den 1980ern ein Privatzoo auf seiner damaligen Ranch-Festung. Nach Escobars Tod entkamen die Hippos und pflanzten sich mangels natürlicher Feinde munter fort – was zu einer Bedrohung für die lokale Bevölkerung und Behörden wurde. Die Gattung zählt zu den gefährlichsten, weil bei Störung aggresivsten überhaupt.

© Monte & Culebra

Eine klassische Narrative nur phasenweise bedienend, montiert Regisseur De Los Santos Arias hier die Fährnisse des titelgebenden Pepe und seiner Hippopotamus Herde, des Flussfischers Candelario, Urwald-Dorfszenen (inklusive Hinterwald Schönheits-Wettbewerb) sowie (fiktives?) Audiomaterial von Drogenrazzien …und fast überfordernde mehr.

All dies zudem mit häufig ruppigem, auf jeden Fall inkonsistentem Schnitt. Dennoch wartet der Film immer wieder mit faszinierenden Bildern auf, Flusspferd Herden in Vogelperspektive, “Pepe” auf Wasserkanten-Augenhöhe. Die mal in drei afrikanischen Sprachen sowohl als auf spanisch blubbernde Stimme Pepes nervt dann irgendwann doch ein wenig.

Eine dennoch interessante, quasi-dokumentarisch anmutende Fantasie über eine absurde Konstellation. Wenn es eine Parabel gibt, so liegt sie hier einigermaßen versteckt.

 

Gloria! (Italien/Schweiz, Regie: Margherita Vicario)

Du liebe Güte, wo fange ich an? In Erwartung ein -vielleicht geklittertes- Historiendrama um die Einführung des Pianoforte in die Musikwelt zu sehen hatte ich einige Mühe betrieben, das Ticket zu ergattern. Der Reihe nach.

Ein von Nonnen geführtes Mädchen-Waisenhaus und Musikseminar im ärmlichen Norditalien um 1800. Die stumme Magd Teresa träumt hier oft in den Tag hinein. Hat sie doch offenbar mehr musikalisches Naturtalent als so manche der Klosterschülerinnen. Doch Teresa ist in der Hackordnung ganz unten.

Der in Kürze in Venedig zu krönende Papst wird angeblich auch hier im Konvent vorbei reisen, eine musikalische Darbietung von höchstem Rang soll dem Pontifex dargeboten werden. Doch das vor kurzem dem Stift gespendete Instrument – eins dieser neumodischen und teuflischen Pianofortes, wurde -wenn auch kostbar- verstohlen in einem Verließ verwahrt.

Der Leser ahnt es, der Zuschauer traut trotzdem seinen Augen nicht: Teresa entdeckt das teure Stück, klimpert alsbald nächtlich geheim autodidaktisch die gar wunderbarsten Melodeien.

Einige der Klosterschülerinnen entdecken Teresa dabei – und zwingen sich nebst ihren Instrumenten zu nächtlichen Jamsessions auf – es entbrennt ein Wettstreit, wer die bessere Musik spielt. Während dem Abt und Orchesterleiter, alternd und jähzornig, keine Note aufs Papier kommen will. Bei seinen täglichen Proben mit dem Schul-Orchester  werden nur noch Tonleitern gedudelt.

© tempesta srl

Wer auch nur halbwegs realistisches erwartet, der bekommt vor lauter Kopfschütteln langsam Halsstarre. Hier ist wirklich, wirklich keine Figur, die nicht klischeehaft ausgestattet wird bis an die Grenzen der Parodie.

Die Magd ist gütig mit schüchternem Augenaufschlag, wird -wie auch die Schülerinnen – von der missgünstig-übellaunigen Oberin unterdrückt. Der Abt ist unfähig und lächerlich ungerecht – hat zudem eine homosexuelles Geheimnis und veruntreut Gemeindegelder. Der Gemeindevorsteher ist korrupt und verschlagen, vertuschend, dass Teresa vor Jahren ihr kleines Kind an seine Frau aufgeben musste.

Immer wenn man hofft ‘jetzt ist gut’ wird nochmals dicker aufgetragen. Dieser Schmonzes hätte mit seiner kindlichen Naivität bestenfalls in die Jugend-Sektion, nicht aber in den Wettbewerb gehört.

Als wenn das Alles nicht schon genug ist (beziehungsweise zu viel): Die Anachronismen und Unglaubwürdigkeiten beim Musizieren schlagen (wie es Louis de Funes mal in der deutschen Synchro in den Mund gelegt wurde) dem Fass die Krone mitten durchs Gesäß:

Die inselbegabte Teresa war es, die swingende Grooves, Jazzharmonik und Italo-Pop bereits vor 200 Jahren in Italien entdeckte. Aschenputtel meets Sister Act.

Ganz zum Schluss die einzige tatsächlich berührende Einstellung, es wird eingeblendet: Per Dekret der französischen Besatzer wurden 1807 in Italien alle Waisenstifte aufgelöst, in denen Hunderte von jungen Frauen musizierten und komponierten. Der Film sei der Erinnerung an ihre vergessene Musik gewidmet.

Dazu hat es nun dieses ganzen Kintopp bedarft. Das zum guten Teil italienisch besetzte Publikum war allerdings beim rasenden Schluss-Applaus komplett aus dem Häuschen, während man selbst endlich die Hände vom Gesicht nahm.

 

Yoake no subete | All the Long Nights (Japan, Regie: Shô Miyake)

Der Zufall wollte rgen danach buchte. Im Zusammenhang (die Filme sollen sich angeblich ergänzen) prima – aber ob ich am Ende eines langen Berlinale Tages noch

Wir lernen Misa kennen, eine junge Angestellte welche kaum einen Job mehr als einen Monat halten kann: Misa plagt das prämenstruale Syndrom, das bei ihr zu extremen Stimmungsausbrüchen führt. Besonders in der japanischen Gesellschaft ist so etwas am Arbeitsplatz ein Tabu.

Endlich findet Misa einen ruhige Stelle in einer kleinen Manufaktur, sie lebt sich proaktiv freundlich (mit mitgebrachten Snacks) ein in die gutmütige kleine Belegschaft ein. In dem verschlossenen Tamazoe erkennt sie schon nach Kurzem jemanden, der seine eigenen Probleme hat: Tamazoe ist seit Jahren wegen Angst-Störungen in Behandlung – auch er hat eine aussichtsreiche, gut dotierte Karriere abbrechen müssen.

Ihm fällt es noch etwas schwerer sich in dieses doch hilfreiche soziale Netz einer drolligen, doch empathischen Belegschaft zu ergeben.

Genauso behutsam wie uns die Hauptfiguren näher gebracht werden, lernen Misa und Tamazoe sich kennen und einander schätzen. Zwei bisher nur bedingt lebensfähige Jung-Erwachsene tasten sich ins Leben. Lernen von einander in liebevoller, doch platonischer Zweisamkeit.

© Maiko Seo/2024 All the Long Nights Film Partners

Die Zeit, die sich Shô Miyakes Film nimmt, statt in ein Hauruck-Selbsthilfe-Drama zu verfallen, das ist gerade die Stärke dieses berührenden Filmes. Bis unsere Zwei ihre Hilfe nicht mehr benötigen und man einander loslassen kann.

Vielleicht ist dieser Erzählstil auch der kulturellen Konvention geschuldet. Denn wer nicht allzu viele japanische Filme schaut, ist hier immer wieder verblüfft von Respekt und Zurückhaltung.

So zeigt sich beim Q&A dann auch Mone Kamischiraishi (Misa) erstaunt, wie laut in den amüsanten Szenen gelacht wurde -wohin gegen in Japan in Vorstellungen eher ein verstohlenes ch-ch Lachen üblich wäre.

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