Berlinale 2024, Tag 7: Sommermelancholie, Heist, Schläfrigkeit und Gitter

Ein 4-Film Tag liegt vor mir – beginnend mit einer Vorstellung mit noch früherem Start als Vorverkauf der letzten Tage. Ich zweifle an meiner Entscheidung. Doch schon der erste Film ist das frühe Aufstehen wert.

 

Quell’estate con Irène | My Summer with Irène (Italien/Frankreich, Regie: Carlo Sironi)

Ein Reisebus voll Heranwachsender, Ende der 1990er. Eine Schulklasse scheint es nicht zu sein, denn schon von Beginn an liegt eine traurige Schwere über den Szenen. Alle sind in sich gekehrt, keiner ist ausgelassen.

Wir sehen sie in einer ländlichen Reha-Einrichtung, mit scheinbar resigniertem Ernst bei Ausflügen und Gruppen-Sitzungen. Keiner hier sucht Kontakt, jeder und jede scheint bei und für sich sein zu wollen.

Irgendwann spricht die burschikose Iréne dann doch die selbst für hiesige Verhältnisse schüchterne Clara an und die beiden tauschen zögernd ihre Geschichten und Aussichten aus, beide am Ende von langjährgen Behandlungen.

Nach der Heimfahrt überredet Iréne Clara spontan, gemeinsam in einen improvisierten Sommerurlaub abzuhauen. Richtig etwas erlebt, geschweige denn geliebt haben diese beiden “Überlebenden” wohl noch nie. Sie finden sich eine kleine Ferienwohnung an der sizilianischen Küste.

Ausnahmsweise will ich mal nicht mehr verraten, denn diese poetische Sommer Odyssee sollte man genauso erleben wie die Protagonisten. Die noch daran zweifelnd, ob sie ihren Prognosen trauen können, sich langsam ins Leben hinaus tasten.

Carlo Sironis feinfühliges Melodrama punktet mit Ungesagtem, Unausgesprochenem, mit den Lücken die er lässt.

 

Verbrannte Erde (Deutschland, Regie: Thomas Arslan)

Zum Verständnis für den unvermittelten Einstieg des Filmes: Verbrannte Erde ist Fortsetzung von “Im Schatten” des selben Regisseurs. Wenn auch etwas spät, nach 14 Jahren…

Trojan ist kühler Profi. Smalltalk interessiert ihn nicht, er ist für konsequent durchgezogene Geschäfte. Trojan ist Spezialist für riskante Einbrüche, ausgefeilte Pläne. Nach dem letzten Dreh allerdings übers Ohr gehauen, wendet er sich an seine ehemalige Vermittlerin Rebecca. Die macht jetzt zwar auf Unternehmensberaterin – doch hat immer noch allerlei Fäden in der Hand.

Es gibt nur einen Haken für den nächsten Coup: Nur einen im schon feststehenden Team kennt er wirklich – wo er normalerweise seine Leute selbst handverliest. Doch als später langsam klar wird, dass der Auftraggeber im Hintergrund nie vor hatte zu zahlen, wird das nur das kleinste Problem der Truppe sein…

In atmosphärischen Einstellungen lässt Thomas Arslans (ebenfalls Drehbuch) Film diese schmucklose, doch sehr straighte Narrative durchschnurren. Kein Gramm Fett zuviel. Konventionell ? Wenn schon, was für eine Wohltat ist das zur Abwechslung, wo man doch im Festival immer wieder Plots hat, die ihren Namen nicht verdienen und sich im Ungefähren wohlfühlen.

© still: Reinhold Vorschneider / Schramm Film

Keine bräsigen Ermittler Dialoge (haha, weil keine Ermittler), keine betont coolen Sprüche, keine zur Schau gestellte Lässigkeit – hier arbeiten humorlose Profis. Wobei man das auf Protagonisten wie auf den Film selbst beziehen kann. Wie in einer Schachpartie agieren hier sehr fassbare Charaktere. In Genre-Konvention wartet man geradezu noch auf eine Finte, doch der Film ist geradlinig und zielgerichtet – und das ist seine konzeptionelle Stärke.

…wenn es einen auch aufgrund des Schlusses auch etwas unberührt zurück ließ. Man darf auf den dritten Teil der Trilogie hoffen, die Arslan gerade schreibe.

Im anschließenden Q&A hätte man sich dann bessere Fragen gewünscht… Haarspalterei und Detailmystik.

 

The Human Hibernation (Spanien, Regie: Anna Cornudella Castro)

Wie war das gestern mit Sachen, die man sich nur im Festival anschaut?

Eine Theorie besagt, dass es im Grunde 7 klassische Stories gibt. (Ich fand auch schon Listen mit 21): Alle dramatischen Werke lassen sich darauf zurück führen oder sind bestenfalls Hybride davon.

Dieser Film wählt keine davon. The Human Hibernation ist eher eine Science Fiction Anordnung als eine Narrative. Wir beobachten Menschen bei Ende des Winters mit blauen Overalls beim Hervorkommen aus Schlafpläten in der Natur. Eine in der Größe sehr begrenzte Kolonie rappelt sich auf und macht die über den Winterschlaf überwucherten Behausungen klar. Tiere des Waldes, Kuhherden, in den Häusern wie selbstverständlich herum stromernde Hähne, Ziegen et cetera sind unangefochtene Zuschauer und Mitbewohner.

Die wenigen Dialoge, die hier verstreut in den Ablauf der Zeit montiert sind, kommen denn eher deklamatorisch, mystisch bis philosophisch daher. Eine Atmosphäre von Post-Zivilisation liegt über dem Ganzen. Bis sie sich dann allmählich (endlich! – siehe unten) wieder aufmachen, für einige Zeit zu überwintern.

Einigermaßen interessant anzusehen, beanspruchen die meist zu lange gehaltenen Einstellungen und Konstellationen die Aufmerksamkeit. Es ergibt sich eine stark sedierende Wirkung. (Intensive Filmfestival-Gänger können zwischen meinen Zeilen lesen, hüstel). Und somit sollte ich mir vielleicht kein abschließendes Urteil anmaßen.

 

Vogter | Sons (Dänemark/Schweden, Regie: Gustav Möller)

Das Warten auf dieses Ticket hat sich gelohnt. Und ich sitze im Berlinale Palast auch noch genau mit sicht auf den Gang, in dem Hauptdarsteller und Regisseur den Saal betreten!

Eva ist seit vielen Jahren Vollzugsbeamtin in einer dänischen Strafanstalt. Fair und menschlich kümmert sie sich um die von ihr betreuten Häftlinge. Sie ist allerdings auch in einem Trakt mit geringem Strafmaß und hoher Aussicht auf Resozialisierung.

Umso verwunderter ist die Gefängnisleitung, als Eva eines Tages in den Hochsicherheitstrakt versetzt werden will. Ihr Wunsch ist den Kollegen ein Rätsel – und auch Eva hat den Hintergrund dazu für lange Zeit tief vor sich selbst verborgen. Vor kurzem ist Mikkel in die Haftanschalt überstellt worden, ein kaum erwachsener Mörder – von Evas Sohn. Intensivtäter Mikkel ahnt von diesen Zusammenhängen allerdings nichts.

Es beginnt mit Triezen bei Hafterleichterungen wie Toilettengängen und Raucherlaubnis, und wird gesteigert durch Evas Missgunst, als Mikkel Besuch von seiner liebevollen Mutter bekommt.

© Nikolaj Moeller

In das tragische und gefährliche Katz-und-Maus Spiel, das Gustav Möller (auch co-Autor) hier hermetisch inszeniert, sind noch einige Schichten eingebaut. Unterkomplex ist dieses Knastdrame nicht gerade. Man ist bis zum Ende gebannt, auch von Sidse Babett Knudsens (Eva) Darstellung. Unterdrückt eindringlich, ohne selbst Großaufnahmen übertrieben zu wirken. Sebastian Bull als Mikkel wirkt wie eine jederzeit zur Explosion bereite Bombe

Das dieses Jahr schon einige Male benutzte 4:3 Format trägt abermals zur Eingrenzung bei. Hier werden eigentlich Haftstrafen verbüßt, doch diese Wärterin ist einem ganz eigenen Gefängnis.

Eine dennoch humane Studie in Hass und die Grenzen von Vergebung.

Bizarre Fußnote aus der Abteilung Fachkräftemangel: die äh, Moderatorin bittet beim Schlussapplaus den Regisseur auf die Bühne – und nennt ihn beim Namen der Hauptdarstellerin! Dieser nimmt es mit Humor und begrüßt den Saal “hello, I am also known as Gustav Möller”. Fachkräftemange.

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