Berlinale 2024, Tag 8: Laues, die andere Seite und – Aufopferung

Yeohaengjaui pilyo | A Traveler’s Needs (Südkorea, Regie: Hong Sang-soo)

manchmal ist es ja schon so, dass man nach wenigen Szenen glaubt, eine filmisch andere Sprache zu sprechen. Teils absurde Verhaltensweisen der Akteure,

Wir begleiten die nicht mehr junge Französin Iris an einem Tag in ihrer Wahlheimat Seoul. Iris verdingt sich dort mit privaten Französisch-Sprachstunden (wenn man das so nennen kann).

Das kaum Intention vermuten lassende Szenario zeigt Iris bei einer zufällig plaudernden Methode, die sie “experimentell” nennt. Das ist stark geschmeichelt, nur die asiatische Freundlichkeit vermeidet wohl dass sie damit überhaupt durchkommt.

Keiner ihrer Sprachschüler (wenn man das so nennen kann) weiß etwas konkretes über die Migrantin. Die Dialoge, ob nun Unterrichtsgespräche oder Smalltalk, plätschern spannungslos so dahin.

Später am Tag übergibt sie dem deutlich jüngeren Inguk, bei dem sie Mitwohni ist, zufrieden ihre Einnahmen. Ihr erster stolzer Beitrag zur Miete. Kurz bevor dessen Mutter mal vorbei schaut und Iris sich verstohlen verabschiedt. Inguk seiner argwöhnischen Mutter überlassend.

Deren folgende Tirade ob dieses seltsamen Arrangements sind die einzigen Minuten, die so etwas wie inhärente Spannung aufbauen.

© 2024 Jeonwonsa Film Co.

Ansonsten gewinnt man den Eindruck, ungeschnittene Testaufnahmen zu sehen, mit improvisierten Dialogen. Long Takes ohne Ziel oder Dramaturgie. Für die Veröffentlichung eigentlich gar nicht vorgesehen.

Ob sie denn immer noch Freunde seien, fragt Inguk Iris, als er sie abends im Park eingenickt aufsammelt. Und dann ist dieser lapidare Film unvermittelt vorbei. Keine Minute zu früh.

In meiner U-Bahn-Station spielt nach dem Film ein Straßenmusiker einen schönen Song mit dem Refrain “I’ don’t even try”. Zu harsch?

Selbst Regisseur Hong Sang-soo zeigte sich am Abend bei der Preisverleihung verblüfft über den Silbernen Bären / Großen Preis der Jury der ihm verliehen wurde. Er selbst wüsste nicht, um was es in dem Film geht..vielleicht könnte die Jury es ihm erklären.

 

Crossing (Schweden/Dänemark/Frankreich/Türkei/Georgien, Regie: Levan Akin)

Mein eigentlicher Kanditat als persönlicher Eröffnungsfilm vor einer Woche. ‘Crossing’ wäre ein famoser Start in mein Berlinale Jahr gewesen. Nun wenigstens kurz vor Ende.

Der pensionierten Geschichts-Lehrerin Lia macht keiner ein X für ein U vor. Die resolute, aber gerechte Georgierin ist auf der Suche nach ihrer Nichte Tekla.

Tekla ist als Trans-Frau Vorurteilen und Anfeindungen in der georgischen Provinz entflohen, angeblich nach Istanbul. Es war der letzte Wunsch Lias verstorbener Schwester, dass Tekla in die Familie zurück käme.

Im Schlepptau mit Achi, einem Heranwachsenden bricht Lia nach Istanbul auf. Achi seinerseits will nichts als raus aus seiner hoffnungslosen Gegend – und hatte sich Lia mit angeblichen türkisch-Kenntnissen und einer Adresse in Istanbul förmlich aufgedrängt hat.

Dass Achis Sprachkünste bestenfalls rudimentär ist, wird sich als nur eine seiner Notlügen zeigen. Völlig unbedarft sagt er nach Grenzübertritt: “hier sieht es ja genau so aus wie drüben”. Vielleicht ein Schlüsselsatz, wie ich jetzt so denke.

© Haydar Tastan

Das heutige Istanbul, das Lia zwar als Kind mal mit den Eltern bereiste, ist eine metropole Welt die sie – mehr denn je – ablehnt. Wenn auch kaum bei Kasse und in einschlägigen Vierteln immer wieder abgewiesen, ist Lia bei ihrer Suche unbeirrbar. Irgendwann auch darin, doch eigene Vorbehalte aufzugeben. Der Zufall führt sie nach einiger Zeit mit der herzensguten Trans-Frau Evrim zusammen, die in der Sexworker-Szene juristischen Beistand gibt.

Die Chemie der Darsteller-Riege ist frappant, der Plot ist schlüssig und bis zum Schluss sind wir interessiert, wohin diese außergewöhnliche Heldenreise führen wird. Obendrauf eine Bildgestaltung vor der man sich nur verneigen kann: Wie die Kamera hier auch in gewöhnlichen bis schäbigen Winkeln noch faszinierende bis poetische Bilder findet – das wäre preiswürdig gewesen.

Levan Akins fantastisch gelungener Film erzählt von Menschen, die sich abgewandt haben, vertanen und nun bereuten Chancen. Und von Freunden und Familien, die man nicht gedacht hätte zu finden.

Bei einem späten und ergreifenden Dialogsatz kommt mir später ein Seneca-Zitat in den Sinn, das ich gestern wiederfand: Es ist nicht wenig Zeit die wir haben – sondern viel Zeit die wir nicht nutzen.

 

In the belly of a tiger (Indien/USA/Volksrepublik China/Indonesien/Taiwan, Regie: Siddartha Jatla)

 Im Q&A erklärte der Regisseur im Anschluss: Auch wenn es kommerziell schwieriger ist, wollte er seinen Film bewusst vom Bollywood Genre fern halten. Mission gelungen..

Eine armselige und abgelegen wie von der Zeit vergessene Gegend in Uttar Pradesh, Nordindien.

Viele der einsässigen Bauenfamilien leben unter dem Existenzminimum. Mit Glück hat man noch eigene Arbeitstiere, ihr eigenes Land sind viele bereits losgeworden. Daher wählen viele von Ihnen, in der dortigen Ziegelei zu schuften. Knochenarbeit, gänzlich ohne Maschinen Einsatz.

Die Lohnverhältnisse dort sind ausbeuterisch und ungerecht, die Tagelöhner werden genau genommen gegeneinander ausgespielt. Die Menschen stehen buchstäblich vor dem Nichts. Und so verdächtigen Behörden wie auch Arbeitgeber, dass mancher seine Angehörigen in den Wald schickt, damit sie von Tigern angefallen werden – um Entschädigungszahlungen einzuheimsen.

Später wird uns Regisseur Siddartha Jatla versichern, er hätte nicht übertrieben.  Lediglich der Tiger-Part, der ihn einst in einem Zeitungsartikel aufmerksam machte, wäre vom Boulevard verdreht worden.

Das Dorf, welches Jatla seinerzeit besuchte, hätte ihn durch die ärmlichen Verhältnisse, die unverhohlene Ausbeutung in einem ansässigen Betrieb sowie durch den grassierenden Alkoholismus schockiert. Wobei die Einwohner dennoch in aller Armut stets Wert auf würdevolles Äußeres gelegt und die spärlichen Hütten und Höfe tiptop gehalten hätten.

Jatlas Film fokussiert auf das Schicksal des greisen Paares Bhagole und Prabata, deren verwitweten Sohn und seine zwei noch kindlichen Töchter. Jede Option zur Selbstausbeutung ausgeschöpft, wirtschaftlich und emotional am Ende. Die Innigkeit, mit der dies alte Ehepaar später in einer letzten Nacht unter einem Baum nebeneinander sitzt, rührt einen zutiefst.

Vor vielen Jahren persiflierte ein Film hier auf der Berlinale das Genre des philippinischen Armutspornos. Von solch emotional manipulativer Duselei ist Siddartha Jatlas (erst zweiter!) Film allerdings meilenweit entfernt. Auch wenn der Regisseur zum Beispiel seinen (wie er später erzählt) Wunschkomponisten Shigeru Umebayashi (u.a. “In the mood for love”) gewinnen konnte, so setzt er dessen wunderbare Themen nur sehr dosiert ein.

“In the belly of a tiger” mag uns wie aus einer anderen Welt erscheinen. Doch diese Armutstragödie ist emotional nur die eine Hälfte dieses ergreifenden Filmes. Siddartha Jatla zeigt uns, wie tief Ergebenheit und Aufopferung gehen können. Nicht zuletzt, wenn man ein ganzes Leben in Liebe, Seite an Seite verbracht hat.

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