Berlinale 2025, Tag 3: Lakonik und Grimmscher Body Horror

An Tag drei ist nach dem bisher Gesehenen in “nur” drei Filmen durchaus noch Luft nach oben. In jeder Hinsicht. Ob heute ein echtes Fundstück dabei sein würde? Wieder gelangen mir im Vorverkauf nur zwei Tickets – was nur zum Teil am Online Server lag. Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass das Angebot schon einmal reichhaltiger war.

 

The Swan Song of Fedor Ozerov | Litauen/Deutschland | Regie: Yuri Semashko

Fedor will es nun doch noch mit der Musik schaffen: Sein erstes selbst produziertes Amateur-Album hat er aufgrund Band-Auflösung notgedrungen im Alleingang produziert. Doch außer neuen Bandmitgliedern fehlt ihm auch neues Material. Kann er doch, so glaubt er fest, nur in seinem Lieblings-Pullover gute Songs schreiben. Doch der ist unauffindbar.

Dass seine Schwester ihn gemahnt, aufgrund politischer Spannungen stünde ein Weltkrieg ultimativ bevor, das kann ihn nicht beirren.

Ein Mentor Fedors schenkt ihm reinen Wein ein – ermuntert Fedor aber auch. Ein Band-Aspirant entpuppt sich zunächst als Superfan von Fedors ersten Album – später dann als Irrer. Und immer noch fehlt dieser Pulli! Konsequent werden die Ereignisse, Fedors Entscheidungen immer absurder, je näher wir dem Ultimatum kommen. Später wird er sogar zu einer Version des mythischen Orpheus.

© Yuri Semashko

Yuri Semashko (Buch, Schnitt, Regie) bekennt sich hier zu einem lakonisch drolligen No-Budget Flair, welches den Film sehr unterhaltsam über seine angemessen kurze Laufzeit trägt. Die Frenetik im Publikum ist allerdings selbst bei Wohlwollen etwas schwer nachzuvollziehen – wie sich später zeigt, sind allerdings viele Muttersprachler anwesend.

Die dürften wohl auch manche Feinheiten in den Dialogen besser verstanden haben. Dass mal litauisch, dort russisch gesprochen worden sei, das wäre laut Regisseur Zufall bei der Cast-Auswahl gewesen.

Ein wenig manisch wie Titelfigur Fedor, erwähnt Semashko mehrere Male, wie schlecht der Sound bei der Premiere im Delphi vor zwei Tagen gewesen sei. Wir hätten das weitaus bessere Screening erwischt.

 

 

Wie gut der Tag enden würde, hatte ich nicht ahnen können. Denn meine zweite Vorstellung schien wiederum unter keinem guten Stern zu stehen: Ich erkannte, warum ich gut daran getan hatte, das Urania bis heute zu meiden: Riesiger Saal, die Plätze linear voreinander und dazu kaum Gefälle. (Zum Glück ist meine Superpower gerades Sitzen und vor mir sank man im Sessel zusammen.) Außerdem begann die Vorstellung ohne ersichtlichen Grund deutlich verspätet. Wie sich heraus stellte, wohl auch weil das Filmteam (70 Personen, so wurde später vermerkt) erst bummelig vor Beginn, teils mit Getränken in der Hand seine Plätze einnahm. 

Den stygge stesøsteren [The ugly stepsister] | Norwegen, Polen, Schweden, Dänemark | Regie: Emilie Blichfeldt

Sie würde den Film jetzt auf uns loslassen (“unleash”), so frohlockte dann endlich die merklich aufgekratzte Regisseurin, vom Moderator vorab auf die Bühne geholt. Ihr läge die Aschenputtel-Mär sehr am Herzen und sie spoilert (fast) – mehr weiter unten. Der Reihe nach:

Zu Beginn fragen wir uns noch aufgrund der sich anbahnenden, latent derben Überzeichnung, wohin hier die Reise geht… ob der Film seinen Ton finden wird. Wieder eine Patchwork-Famlien-Zusammenführung, ein paar Jahrhunderte vor dem Heute.

Die mittellose Witwe Rebekka zieht mit ihren Töchtern Agnes und Elvira ins Anwesen eines vermeintlich wohlhabenden, älteren Galans, der da hat eine hübsche Tochter namens Agnes. Der erhoffte Segensbringer segnet leider kurz darauf das Zeitliche. Als sich auch noch herausstellt, dass dieser Haushalt ebenso auf den Hund gekommen ist, wird für die erneute Witwe und Möchtegern-Sozial-Aufsteigerin guter Rat teuer.

Der Prinz des Landes nun, wird von allen Jungfern für seine Poesie vergöttert – und veranstaltet in Kürze einen Ball, auf dem er seine Braut küren will. Ein Wettstreit entbrennt zwischen der zunächst hochnäsigen Agnes und der keinem Schönheitsideal entsprechenden Elvira. Angefeuert von -der jede Hockey-Mum in den Schatten stellenden- Rebekka. Denn das Bewerberfeld ist so groß wie heutzutage bei Casting-Shows.

Der Zuschauer darf bald vermuten: Die Tochter-Figuren sowie die “böse” Stiefmutter des Aschenputtel-Urstoffes bieten hier scheinbar nur die Grundlage. Denn es scheint dann doch anders zu kommen, oder? Wer ist die Gute, wer die Böse – wir denken an die Worte der Regisseurin zurück, “die hässliche Stieftochter, das war ich.” “Es gibt nur eine Cinderella, das können nicht alles wir sein”.

Hier nun fühlt man sich mal auf angenehme Weise unsicher, wie das alles enden wird. Es ist schon eine Kunst, wie Emilie Blichfeldt (sowohl Regie als auch Buch) Grenzen verwischt und mit Erwartungshaltungen spielt, selbst wenn sie vor Klischees nicht zurück schreckt sondern sie genre-gemäß umarmt.

Die Parallelen zum Heute, die Emilie Blichfeldt andeutet, dass das Ganze auch als Analogie zu aktuellen und auswuchernden Sozialträumen gelesen werden kann, ist nicht so weit hergeholt wie es sich hier liest. Versprechen doch Influencer, Beauty-Ideale, Body-Optimierungs-Trends, Posen-Coaching, Lifting-Auswüchse und (Model-)Castingshows Träume die meist nicht wahr werden.

© Marcel Zyskind

Die drastischen bildlichen Schockeffekte in “Den Stygge Stesøsteren” wirken nicht wie Effekthascherei, sondern verdeutlichen eindringlich den Wahn der handelnden Figuren: Abnehmen durch Parasit, Nasenkorrektur mit Hammer und Meißel, Selbstverstümmelung… brachten dann auch das Publikum auch zu heftigen Reaktionen: Vehementes Aufstöhnen, gefolgt von übersprunghaftem Lachen – bis hin zu Szenenapplaus. Selten und seltsam.

Und doch ist es nur vorlagentreu: Märchen ziehen halt ihren Effekt auch aus grauenvollen Taten. Wobei die Grimmsche Version der Geschichte, wie sich finden lässt, weitaus nicht die Einzige ist. Die Aschenputtel-Legende geisterte Jahrhunderte in Variationen durch Europa, bevor die Gebrüder Grimm und später Ludwig Bechstein sie in die heute erinnerte Form gossen.

Besser, werkgetreuer, als in diesem Film kann man Märchen-Topoi nicht für ein modernes Publikum adaptieren, interpolieren, remixen.

Ich gebe es zu: Aufgrund der plakativen Bilder und des knappen Berlinale-Online Material wäre ich wohl schon mit weniger zufrieden gewesen. So spärlich fanden sich persönliche Ticket Treffer in den ersten drei Tagen. Doch dies Langfilm Debüt von Emilie Blichfeldt gönnt uns hier das volle Brett – und was für eins.

 

Am Rande: Im Q&A wurde die bedeutungsschwangere Frage platziert, ob das Filmbusiness jetzt eurozentrisch wird. Bei gezählt 14 (vierzehn!) Titelkarten der beteiligten Co-Produktionsfirmen im Vorspann, darf dies bezweifelt werden. Offenbar nur in dieser Massierung ist ein Film wie dieser offenbar zu stemmen. Wenn dabei etwas so einmaliges herauskommt: bitte sehr.

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