Berlinale 2025, Tag 4: Wahn, Kampf – und Panik nach Drehschluss

Also so ganz schlecht läuft es ja nun nicht: Denn Tag 4 erweist sich als prächtig. Der Drei-Film-Run beginnt nachmittags:

How to be normal and the oddness of the other world | Österreich | Regie: Florian Pochlatko

Die Liste von Pias Diagnosen ist ellenlang und soll hier nicht namentlich trivialisiert werden. Die junge Frau treffen wir kurz vor der erhofften Entlassung aus stationärer psychiatrischer Behandlung. Pia wird ein weiteres Mal auf ihre geduldigen Eltern angewiesen sein, in deren Haushalt und Sorge sie sich jedoch auch eingeengt fühlt. Ihr ehemaliger Lover Joni ist mittlerweile neu verbandelt. Er hat zwar Mitgefühl für Pias innere Kämpfe, aber keine Kraft und Geduld mehr – schon mit neuer Freundin zusammen.

© Golden Girls Film

Pias Vater Klaus will sie im Betrieb, dem er vorsteht, unterbringen. Was dort aber an drögen Jobs für die wenig qualifizierte Pia anfällt, das fühlt sich bestenfalls wie eine andere Form von Psychopharmaka an – von denen Pia buchstäblich sowieso viel zu schlucken hat. Nebenwirkungen und Risiken inclusive.

Trotz bester Absichten und Zuversicht ereilen Pia kleinere oder größere Aussetzer. Bildlich dargestellt, wenn Wahnvorstellungen Pias Realität in Bildformat und Stilistik wie in “Matrix” oder Katastrophenfilmen dargestellen – oder aber Videoqualität.

Bei aller Liebe kommen nicht nur der immer wieder kontaktierte Joni, sondern auch Pias Eltern über die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Irgendwann fällt der Satz “DAS ist das ECHTE Leben, Pia!”

Doch ist das ja noch beunruhigender: Der Druckerei-Großbetrieb des Vaters droht von einem Konzern mit smiley im Logo geschluckt zu werden. Die Mutter, verzweifelt als Off-Sprecherin an den immer fragwürdigeren Texten, die ihr Arbeitgeber ihr zur Vertonung vorlegt… voller Alarmismus und Desinformation.

Wie später ein weiser Mitpatient Pias bemerkt: Weitermachen, die Abstände zwischen den Ausfällen vergrößern, darauf kommt es an.

Der Film, der so manchen Twist bereit hält, macht es sich im besten Sinne des Wortes nicht leicht, dies komplexe und nur selten dargestellte Thema nachvollziehbar wie unterhaltsam darzustellen. Skript, Regie und Darstellungen zeugen dabei von Sympathie für die Heldin und Sensibilität für den Topos. Was Erkrankte durchmachen, das können wir hier -vielleicht zum Glück- wenigstens erahnen. Regisseur und Co-Autor Florian Pochlatko versicherte, diese Story sei ihm ein persönliches Anliegen gewesen.

Hauptdarstellerin Luisa-Céline Gaffron stieg spontan im anschließenden Q&A für eine lange Umarmung von der Bühne. Eine Person in der ersten Reihe hatte während des Interviews offenbar die Fassung verloren.

 

Begyndelser [Beginnings] | Dänemark/Schweden/Belgien | Regie: Jeanette Nordahl

Es kommt aus nicht ganz heiterem Himmel. Eigentlich sind Ane und Thomas kurz davor sich zu trennen. Die arrivierte Meeresbiologin und der engagierte Jugendbetreuer schieben es vor sich her, den Kindern mitzuteilen und spielen derweil Alltag. Thomas ist kurz davor, mit (s)einer neuen Liebe eine neue Wohnung zu beziehen.

Diese Pläne werden auf Eis gelegt, als Ane einen Schlaganfall erledigt, der sie halbseitig lähmt. Nach zig Ehe-und Familienjahren kann und will Thomas Ane nicht im Stich lassen, ihr wenigstens in der ersten Zeit zur Seite stehen.

Zunächst scheint das Familienleben nun noch angespannter zu werden. Ane lässt ihre Frustration vor allem an der fast erwachsenen Tochter Clara aus. Erst langsam, aber dann immer engagierter kämpft sich Ane mit bewundernswertem Einsatz ins Leben zurück und gewinnt einen Teil ihrer Unabhängigkeit wieder. Dem Familien-und Freundeskreis spielt man weiter heile Welt vor, Anes Erfolgsgeschichte ist wichtiger.

Thomas’ Aufschieben seines Exodus rückt immer weiter. Bei aller Mühe und Anspannung sehen sich die langjährigen Eheleute zumal langsam mit neuen Augen.

© Thomas Howalt Andersen, Danni Riddertoft

“Begyndelser” überzeugt und bewegt -fein austariert, stille Kraft ausstrahlend wie die Hauptfigur.

Hauptdarstellerin Trine Dyrholm bekundete im Q&A, wie unschätzbar es war, dass es bei Regisseurin Jeanette Nordahl immer Zeit und Raum gab, um Szenen auszukunden, Alternativen zu probieren. Das Skript, bekundete Nordahl, sei ihr nie bis aufs Wort wichtig gewesen.

Zu Gute kam außerdem, dass Trine Dyrholm und David Dencik (Thomas) sich schon lange kennen, bereits 2006 gemeinsam in einem Film hier vertreten waren.

Für Bjørk Storm, die Darstellerin der Tochter Clara war es bemerkenswerterweise ein Debüt -sie zeigte sich dankbar, wie sehr sie von (Filmmutter) Trine Dyrholm unterstützt wurde.

Die kluge Antwort Nordahls im Q&A, ob das Ende des Films als happy ending gemeint sei: das Läge ganz bei uns.

 

Hysteria | Deutschland | Regie: Mehmet Akif Büyükatalay)

Film im Film: Der aufsteigende Regisseur Yiğit dreht eine vermeintlich politisch korrekte Re-Inszenierung eines fremdenfeindlichen Attentats der jüngeren deutschen Geschichte.

Dass ein echter Koran während der Brand-Szene als Requisite einkalkuliert mit-verbrennt, ist nicht nur für aus einem Wohnheim für Geflüchtete rekrutierte Komparsen ein unerträglicher Affront.

Der assimilierte und sich als moralisch rechtschaffen sehende Regisseur ist für solche Einwände taub, gehe es doch um etwas Größeres. Trotzdem liegt etwas in der Luft.

Als die Filmstudentin und eifrige Praktikantin Elif von Produzentin Lilith gebeten wird, das Film-Material des Drehtages in deren Wohnung zu bringen (in der Elif sowieso nächtigt) beginnt es, aus dem Ruder zu laufen. Nach einem munteren Plausch mit den ins Heim chauffierten Geflüchteten entdeckt Elif, später an der Wohnung ankommend, dass sie Liliths Schlüssel verloren hat. Die Entscheidung, das für sich zu behalten und sich beim Schlüsseldienst als die Mieterin auszugeben, ist nur der erste von vielen weiteren Fehlentscheidungen. Denn irgendwann ist das Filmmaterial selbst verschwunden.

Das spektakulär gute Skript von “Hysteria” setzt eine Verkettung von Ereignissen und Verwicklungen in Gang, die aufzuzählen und hier den Rahmen sprengen würde. Ganz zu schweigen, die durchaus vorhandene Spannung nehmen würde.

Hitchcock war es bekanntlich am liebsten, wenn der Handlungs-auslösenden “Macguffin” genau genommen nichtig ist. In “Hysteria” ist es jedoch ein greifbarer Clusterfuck aus fehlgeleitetem Ehrgeiz, Karriere-Hoffnung, Reputation, Finanzierung der Filmproduktion, religiöse Gefühle, Risiko der Abschiebung.

Das Ganze könnte bei dem gewitzten Detailreichtum als Satire durchgehen – doch Regisseur Akif Büyükatalay verzichtet auf jeden Comic Relief und inszeniert hier einen unablässig spannendes, zum Thriller gereichendes Whodunit. Viel länger als man vermuten würde trägt dieses Cluedo-artige, lustvolle Wirrwarr an Verdächtigungen und Vertuschungen.

Dass man irgendwann zweifelt, ob es die Wahrheit überhaupt heraus kommen würde, wer das Film-Material denn nun entwendet hätte, bekamen wir im Q&A bestätigt. Spoiler: Regisseur Büyükatalay hat nur dem/der Schauspieler/in unter Verschwiegenheit gesagt, dass er/sie der Täter gewesen sei. So wurde nicht nur im Cast planvoll Ungewissheit gesät.

Wohlgemerkt, die meisten der Protagonisten haben einen migrantischen Hintergrund: es geht hier also eigentlich nicht um einen interkulturellen Konflikt. Wohl aber um Deutungshoheit und moralische Überlegenheit.

Regisseur und Autor Akif Büyükatalay zeigte sich etwas befremdet, dass er auf der Berlinale besonders für seine dreidimensionalen Charaktere (zu Recht!) am meisten gelobt würde. Eine, wie er findet, Grundtugenden die ein Skript und Film doch wohl haben sollten! Es war ihm ein Ziel, den Mangel an Diskussionsbereitschaft und Akzeptanz auf die Leinwand zu bringen. Wären die Figuren bereit, nur ein wenig aufeinander zuzugehen, sich wirklich zuzuhören – der Film wäre in 5 Minuten vorbei, so Büyükataly.

 

 

Er zeigte sich befremdet, dass So interessant das Q&A anschließend auch war, befremdete es, dass ohne Wunsch des Publikums eine Dolmetscherin lang, wenn auch gekonnt auf englisch auf deutsch oder umgekehrt zwangs-übersetzte. Schneckentempo, jede Beifallsbekundung verzögernd.

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