Berlinale 2025, Tag 5: Arktis, fragwürdiger Ethos und Pampa

Ein Tag im Cubix. Ich widerstand der Versuchung, zwischendurch nach Hause zu eilen – wenn auch nur 4 Stationen, wäre es dann doch etwas knapp geworden. Die Zeit ließ sich besser nutzen, um Entwürfe für den Blog zu schreiben. Nachmittags ging es charmant los mit

L’ Incroyable femme des neiges [The incredible Snow Woman] | Frankreich, Regie: Sébastien Betbeder)

Coline, Polarforscherin, taucht eines Nachts wieder im ehemaligen Elternhaus auf. Ihr jetzt dort, im französischen Jura, wohnender älterer Bruder Basile staunt nicht schlecht, und schlägt sie, für einen Einbrecher haltend erstmal nieder. Jahrelang war die Schwester von der Bildfläche verschwunden. Coline und Basile müssen wohl reden. Doch das gestaltet sich nicht gerade einfach.

Denn Basile muss bald erkennen, dass Coline etwas auf den Hund gekommen ist. Ihr eigenwilliges und erratisches Verhalten führte zu Jobverlust – sie scheint derzeit eher durchs Leben zu schlingern. Wie auch jetzt im alten Heimatdorf. Ein Gastunterricht an der lokalen Grundschule endet im Fiasko, der abstruse Versuch, an eine Jugendliebe anzuknüpfen im Eklat. Eine latente bipolare Störung macht es Coline nicht leicht – die Tatsache, dass sie allen eine weitere Diagnose verheimlicht noch mehr.

Als der jüngere Bruder Lolo, ebenfalls besorgt, im Heimatdorf eintrifft, beschließt Coline, dass man gemeinsam bei einem Aufstieg zur Berghütte der Familie auf neue Gedanken kommen soll. Schon immer war es sie, die mittlere Schwester, so erfahren wir irgendwann, die ihren Kopf durchgesetzt bekam. Dort angekommen, verschwindet Coline nachts allerdings – die Brüder wähnen sie verunglückt. Coline ist bereits wieder ganz woanders. Ihre Odyssee wird uns noch bis nach Grönland führen. 

Auf der Handlungsebene geht es in “L’incroyable…” um einen notwendigen Versöhnungsversuch. Auf einer tieferen darum, nicht nur den Pfad der Reise sondern auch sein Ende zu akzeptieren.

© Envie de Tempête Productions

“L’incroyable…” zeigt, absurd komische Szenen sparsam mit tragischen kombinierend auf, wo in dieser Familie der Hase im Pfeffer liegt. Auch die nicht ganz lineare Plotstruktur nutzt Regisseur geschickt, und so vergibt man dem Film selbst einige kleinere Implausibilitäten und Inkonsistenzen.

Einiges später realisiere ich, dass ich Blanche Gardin hier auf der Berlinale bereits in “Effacer l’historique” durchaus chargierend genoss. Sie gestand im Q&A zu, keine klassische Schauspielerin zu sein und sich ihren Rollen auf eigenen Weise anzuhähern. Colines verlorenen Blick zurück auf ihren Lebensweg, den uns Gardin hier schenkt, den nimmt man einige Zeit mit.

 

Pa-gwa [The old woman with the knife] | Südkorea, Regie: Min Kyu-dong

Im letzten Jahrgang bedauerte ich einen vermeintlich ähnlichen koreanischen Film verpasst . Am Ende der Vorstellung prüfte ich, ob der vielleicht vom gleichen Regisseur war. Doch nein. Denn hier hatte ich mich nämlich einigermaßen vergriffen.

Die Story hier im Detail wieder zu geben, würde den moralisch fragwürdigen Plot unangemessen adeln. Es geht um eine Mord-Agentur, spezialisiert darauf “Ungeziefer” der Gesellschaft zu beseitigen. Die Auftragslage gut, der Codex vorgeblich hoch. Soso. Protagonistin und Angelpunkt des Films ist “Godmother”, die alternde Meister-Killerin, Mitgründerin und graue Eminenz.

Wie sie in ihrer Jugend sterbend auf der Straße errettet wurde, vom Kopf der Version 1 dieses Unternehmens ist – das soll den Ausgangspunkt und Rechtfertigung dieser verquasten Story von Loyalität, Ethos, Schuld und Sühne geben.

Nach circa 20min, als immer klarer wird, dass der Film wohl seine Ausrichtung und Qualität wohl nicht mehr ändern würde, erinnere ich mich unwohl, dass die Laufzeit mit 131 Minuten angegeben war. Es wird einfach immer weiter geschichtet: Atemloses Erzähltempo, unstete Struktur, immer wieder müssen Rückblenden bemüht werden, die nicht enden wollenden Gewalttaten zu rechtfertigen – und wer sich an wen bei welchem Kill erinnert. 

Kurz gesagt, bietet diese Möchtegern-Saga den Anlass, einer Unzahl (wir reden hier von Dutzenden) Gewaltakten in professioneller Actionchoreographie die Bühne zu bieten. Ohne jede Subtilität und Plakatives für Finesse eintauschend. Komplett befreit von Humor oder auch nur brechender Ironie nimmt sich der gesamte Film zu Ernst nehmend.

© SooFilm

Konsumierbar war dies alles nun aufgrund Produktionswert schon. Allerdings fragte ich mich, warum ich hier immer noch sitze. Das ist nunmal mein Ethos: Einem Werk bis zum Ende Tribut zu zollen und eine Chance zu geben. 

Das Publikum applaudierte erst spät und durchaus verhalten. Vielleicht hatte man sich, wie auch ich, schmuddelig gefühlt, sich dies alles gegeben zu haben. Am Ende des Nachspanns fiel zwei Plätze neben mir der Name John Wick. In der Tat mutierte dessen vierter Aufguss ebenfalls zu einer nicht enden wollenden Martial Arts- und Ballerei-Orgie. Doch kann man dessen Machern nicht vorwerfen, im Ernst und dialogreich fragwürdigen Moral- und Ehrenkodex zu beschwören.

Michael Haneke verstand ja bereits 1997 sein “Funny Games” als Diskussionsbeitrag über die Konsumierbarkeit von graphisch dargestellter Gewalt im Film. Er würde hier verzweifeln.

 

Magic Farm | USA/Argentinien, Regie: Amalia Ulman

Und nochmal Film im Film. Allerdings kein Thriller, auch keine “Amerikanische Nacht” a la Truffaut. Eher “Living in Oblivion” …im Reistetaschen-Format und in der argentinischen Pampa.

Die Internet Journalistin Edna ist immer auf der Suche nach dem neuesten Phänomen für ihre beliebten Videos. Kultige Tänze, bizarre Hypes, ausgefallene Moden, vorgebliche Skandale. Ihre Karriere ist für online Verhältnisse schon lang, es gilt angesagt zu bleiben.

Diesmal führt es ihre kleine und trotz Sticheleien eingeschworene Crew ins argentinische Hinterland. In dem Kaff angekommen, läuft nichts, aber auch gar nichts nach Plan. Es wird nach und nach klar, dass Assistent und Rechercheur Jeff keine ganze Arbeit geleistet hat – der jungdynamische Schürzenjäger war wohl abgelenkt.

Das Hotel entpuppt sich als Absteige, die Reservierung ist nicht bekannt (in dem Ort aber wohl kein Problem) – doch was zu latenter Verzweiflung führt: Dass es hier einen abstrusen Musiker gibt, erweist sich als Missverständnis wegen eines facebook-likes: Lost in translation.

Da das kleine Medienhaus sowieso kriselt, gilt es das Beste aus der Situation zu machen. Der findige Jeff kommt mit (der von Praktikantin zur Regieassistentin aufgestiegenen) Elena auf den Trip: Man könnte doch jemand lokalen kostümieren und einen Trend quasi erfinden – inklusive einheimischer Amateur-Musiker. Die Dörfler ihrerseits sind durchaus bereit, da Pesos bzw. Dollars winken.

Wir erleben mit ihnen viel kurioses. So manches, ob nun Dialog Bonmots wie auch immer wieder gesprenkeltes B-Roll Material des Dorflebens, wirkt improvisiert, was dem amüsantem Flair nur zuträglich ist. Chloe Sevignys Edna konterkariert mit genervtem Deadpan die absurde Treiben.

© MUBI

Überhaupt legen Regie und Buch (beides Amalia Ulman) ein burschikoses Tempo vor, geben die Figuren jedoch nicht der reinen Lächerlichkeit Preis. Im letzten Drittel geht dem Ganzen dann leider doch etwas der Dampf aus.

Erst später erkenne ich übrigens: Wer diese junge Praktikantin spielt – das ist auch die Regisseurin und Autorin. Chapeau!

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