Mein Berlinale Syndrom, wiederholt sich etwa ab Tag 7: Alltagshandlungen, persönliche Verrichtungen erscheinen wie der Blickwinkel auf eine Story. Das Leben als Film.
Kontinental ’25 | Rumänien, Regie: Radu Jude
Die gewissenhafte Gerichtsvollzieherin Orsolya fühlt sich zutiefst schuldig. Trotz viel Geduld und angebotener Unterstützung nimmt ein auf ihre Veranlassung zwangsgeräumter Obdachloser sich kurz darauf prompt das eigene Leben. Keiner, dem Orsolya sich anvertraut, kann ihr moralisches Dilemma und ihre Gefühle verstehen. Rechtlich sei doch alles klar, so hört die Rechtspflegerin immer wieder. Alles wäre in Ordnung, eine Schuld legal gar nicht möglich…
Mehr oder weniger unverholen kann man in den ausführlichen Gesprüchen Orsolyas mit Vorgesetzten, Kollgegen und Freunden immer wieder soziale und rassischte Ressentiments heraus hören. Ihre Mutter schießt aber den Vogel ab, mit ihr kommt es sogar zum regelrechten Krach. Die Beiden gehören der ungarisch-stämmigen Minderheit in Rumänien an. Die liberale Orsolya ist selbstgewählt assimiliert – die reaktionäre Mutter glühender Orban-Fan. Hier wird es dann etwas plakativ. Warum das Skript zudem noch adeln musste, dass der Obdachlose früher erfolgreicher Athlet war, unklar.
Es geht um soziale Konflikte zwischen Rumänen und Ungarn, Wohnungsbau, Immobilien-Kapitalismus, Alltags-Rassismus… später auch noch Gaza und die Ukraine. Ganz schön viel, was hier en passent in einer nicht gerade zwingenden Narrative verhandelt werden soll.
So fallen nicht nur immer wieder Bemerkungen die man als politisch fragwürdig bezeichnen darf. Einzig ein ehemaliger Student Orsolyas ist es, der Herz und Verstand am richtigen Fleck zu tragen scheint. Mit dem jovialen Burschen (ihn kümmert es nicht, dass er als Fahrrad-Bote geendet ist) geht sie später sogar was trinken, was sich zu einer alkoholschwangeren Nacht ausweitet.
Den statisch inszenierten Dialogszenen wird vielleicht zu unrecht vertraut, dass sie über ihre erhebliche Länge tragen. Gedreht wurde übrigens mit einem iphone15, was man bildlich zwar nicht merkt, einige Autofocus Hopser wirken dennoch drin gelassen worden.
Szenentrenner sind immer wieder lange, starre Einstellungen, die zwischendurch aneinander gereit werden. Plätze, Siedlungen, Neubau-Komplexe, Brutalismus-Altlasten, Parks …immer wieder menschenleer im Bild. So, als wollte uns Regisseur und Autor Radu Jude Gelegenheit geben, das Gesagte zu verarbein – dabei aber eine gewisse Spröder in Kauf nehmend.
La Cache [The safe house] | Schweiz/Luxemburg/Frankreich, Regie: Lionel Baier
In dieser kuriosen und liebevollen Großfamilie, so glaubt man, wäre man selbst gerne Kind gewesen.
Mai 1968 in Paris. Studentenunruhen und bald zu einem Generalstreik ausufernde Arbeitsniederlegungen bringen Frankreich an den Rand einer Staatskrise.
In einer geräumigen Wohung lebt gut situiert und seit eh und je die Familie eines namenlos bleibenden Jungen. Der Großpapa praktiziert immer noch als Arzt, die jung gebliebene Oma, die außerhalb “Tante” genannt werden will, unterstützt resolut das Anliegen der Studenten – wie auch ihre erwachsene Söhne. Einer Künstler, der andere Dozent nehmen sie Querelen aufgrund politischen Engagements in Kauf.
Im Hinterzimmer die ergraute Eminenz, die extravagante Uroma, die an (wohl tatsächliche) Affären mit großen Komponisten zurück sinnt.
Das vielseitige Treiben der Familie und das äußere Chaos, das sich bis in ihren Hof und das Familienleben drängt, sind Anlass für Gespräche voller Witz, Esprit, Charme. “La Cache” hat wie seine Familie das Herz am rechten Fleck, bewegt auf vielerlei Art.

Schließlich kommt es zu einer Begegnung der anderen Art mit dem Staatsoberhaupt – die anknüpft, als der “General” Hoffnungsfigur für ein okkupiertes Frankreich war: Eine gewählt späte Rückblende ordnet dann nochmals neu ein, ein notwendig werdender Ausflug von Opa und Enkel berührt.
Eine Wunschfamilie, ja -aber in solchen Zeiten? Denkt man sich und erkennt: Sind die Zeiten jemals ruhig gewesen?
Drømmer [Dreams (Sex Love)] | Norwegen, Regie:
We are all just fools in love. (Jane Austen)
Die 17jährige Schülerin Johanne hat sich vermeintlich unsterblich in ihre neue Lehrerin verguckt. Schon hier ringe ich man nach Worten dafür, die nicht trivial sind. Denn bei all dem was dieser wunderbare Film richtig macht, steht ganz vorne, wie er das Aufkeimen dieser Gefühle beschreibt, wie ernst er sie nimmt.
Der Zauber der Unbedingtheit erster romantischer Erfahrung, den jeder zwar individuell erlebt – aber der doch universell ist. Man kommt nicht umhin, an die erste eigene Verknalltheit zu denken.
Wir begleiten Johanne während Verträumtheit, Annäherungsversuchen – später auch bei den Schattenseiten, wenn Gefühle nicht erwidert werden…wenn man untröstlich mit der Welt nach dem Traum klar kommen muss.
Johanne tut dies, indem sie es niederschreibt. Nur für sich, wie einen zu bewahrenden Schatz. Ihre als Dichterin tätige Oma ist ganz angetan, als sie es unter strengster Vertraulichkeit zu lesen bekommt. Die Mutter wiederum ist fast schockiert, wittert emotionalen Missbrauch. Jeder wohl so, wie er (mittlerweile) auf’s Leben blickt – so finden wir nachher heraus. Der Wind, wohin uns diese gefühlvolle Geschichte tragen wird, dreht sich noch ein paar Mal.
Wie schon letztes Jahr in “Sex” gibt Dag Johan Haugerud seine Hauptfiguren nicht der Lächerlichkeit Preis, sondern erzählt ihr Gefühlsleben, ihre Erwartungen und Träume in einer Menschlichkeit, die im heutigen Kino seltenswert hat. Und wie schon im letzten Jahr strahlen die wunderbaren Dialoge und Monologe, die Haugerud hier präsentiert eine Wahrhaftigkeit aus, die ihresgleichen sucht. Und Halleluja, der Mann kann auch Schlüsse, die unerwartet und folgerichtig sind, wehmütig und hoffnungsvoll. Auch dies, trefflich wie letztes Jahr.

Da verzeiht man auch, dass man anfangs etwas fremdelte, als der Film im ersten Drittel genau genommen ein in Szene gesetztes Hörbuch ist. Anders als in Haugeruds letztjährigen Film, wo die Handlung mit einem zwanglosen Pausengespräch von Kollegen begann, das dann unmerklich tiefgründiger wurde und erst langsam einen Sog entwickelte.
So zugegeben textreich der Film auch ist – wenn so trefflich formuliert wird wie hier: bitte sehr. Es ist wohl kein Zufall, dass viele Zuschauer auch nach dem Abspann noch lebhaft in den Sitzreihen redeten und kaum aufstehen wollten. Weit nach 23Uhr.
Ein weises Essay über Verliebtheit. Für “Liebe” als dritter Film in Haugeruds Trilogie kann man nur auf eine Veröffentlichung außerhalb Norwegens hoffen. Die Glücklichen dort konnten alle drei Filme bereits in 2024 goutieren.